Der Träumer von Kosmar
Nachdem Lina durch die goldene Tür mit ihrem Namen geht, wird sie von Graf Ciemnos, Herrn über das Anwesen Kosmar, in Empfang genommen. Doch welchen Grund hat er für die Gastfreundschaft und warum setzt sein Diener Jan alles daran, Lina im Anwesen zu halten? Bald stellt sie fest, dass sie nicht der einzige Gast in Kosmar ist und ihr Bleiben schon lange nicht mehr auf Freiwilligkeit beruht.
Auszug aus
Der Träumer von Kosmar
Emma hätte nichts dagegen gehabt, den Rest ihres Daseins in diesem jämmerlichen Unterschlupf zu verbringen. Alle drei Stimmen in ihrem Kopf sagten ihr, sie sei endgültig übergeschnappt. Aber Emma wusste es besser. Dieses Mal wusste sie es besser.
Zugegeben, die kleine Hütte war dreckig und am Zerfallen, weit über den Punkt hinaus, an dem man sie noch als bewohnbar bezeichnen konnte. Sie stank nach Rattenscheiße und alles, was sich darin befand, war damit beschmiert und nahm unweigerlich denselben beißenden Gestank nach Ammoniak an. Emma selbst war so dreckig, wie eine Herde Säue, die sich seit Tagen im Schlamm gesuhlt hatte. Ihre Haare waren verfilzt und hingen in dicken Strähnen über das blasse, einst hübsche Gesicht. Fingerlange Dreckkrusten bedeckten Wangen und Stirn, wie die geringschätzige Imitation einer Kriegsbemalung.
Aber all das hätte sie nicht weniger kümmern können.
Hätte sich jemand hierher verirrt und einen flüchtigen Blick in die ruinenhafte Hütte geworfen, wäre Emma wohl vor seinen Augen mit dem Hintergrund verschmolzen. Doch genau das war der bestechende Punkt an ihrem Versteck: Niemand verirrte sich dorthin.
Emma hatte die Hütte vor einer Woche gefunden. Sie war zufällig darüber gestolpert, nachdem sie wochenlang in der wild-wüsten Umgebung Kosmars umhergewandert war, immer auf der Flucht vor etwas anderem. Sie hatte sich weiter und weiter vom Anwesen entfernt, dem einzigen zivilisiert-bewohnten Teil dieser Welt – sofern man das, was dort passierte, zivilisiert nennen mochte. Der Rest der Umgebung, jedenfalls, war wild. Hier gab es kein Gesetz, keine Gnade für die Schwachen.
Schließlich war es die unberechenbare Gefahr der anarchischen Welt dort draußen gewesen, die Emma zurück in die unmittelbare Umgebung des Anwesens gebracht hatte. Auch hier gab es keine Gnade, zumindest aber ein allmächtiges Gesetz. Dieses Gesetz war denkbar simpel. Wer sich ruhig verhielt und kein Aufsehen erregte, wurde von Ihm ignoriert.
Erschöpft hatte sie ihren geschundenen Körper durch die schiefhängende Tür der kleinen Hütte geworfen, ungeachtet einer möglichen Gefahr, die überall im Schatten lauern konnte. Sie war bewusstlos am Boden liegengeblieben. Stunden, Tage – Zeit war hier nicht mehr als eine vage Vorstellung. Doch als sie wieder aufgewacht war – und sie war wieder aufgewacht – hatte zum ersten Mal seit einer Ewigkeit niemand versucht sie zu vertreiben oder direkt zu töten.
Ihren neuen Unterschlupf hatte Emma vom ersten Moment an geliebt. Den verrosteten Gerätschaften nach, musste die Hütte einst ein Gartenschuppen gewesen sein. Es gab einen alten Wasserhahn, der eine langsam tröpfelndes Rinnsal an rostig-brauner Flüssigkeit von sich gab. Eine kleine Werkbank war mit Hämmern, Heckenscheren und Schraubendrehern übersät. An den Wänden lehnten langstielige Rechen, Spaten und Hacken. Die hölzernen Griffe waren weitgehend abgefault oder bis zur Nutzlosigkeit morsch geworden. Aber zumindest die metallenen Teile dienten Emma noch als Wurfgeschosse, um die allgegenwärtigen Ratten und das andere Ungeziefer zu torpedieren. Sie war gut darin geworden.
Den Großteil eines normalen Tages kauerte sie neben der Werkbank. Die nackten Füße breitbeinig im Dreck vergraben, ihre Oberschenkel auf den Waden abgelegt, so dass ihr Gesäß wenige Zentimeter über dem Boden schwebte. Dazu hatte sie ihre Achselhöhlen auf den Knien abgestützt und den Kopf eines Hammers oder etwas Ähnliches in der Hand, bereit zum Angriff. Sie konnte eine Ewigkeit in dieser geduckten Position verharren, in der sie selbst den scharfen Sinnen der Ratten entging.
Sobald eines der flinken Viecher an ihr vorbeihuschte, schmetterte sie das Werkzeugteil gegen ihre kleinen Köpfe. Die Ratten wussten nicht einmal, woher der Tod kam. Emma selbst war zu einem unsichtbaren Wesen aus Dreck und Finsternis geworden. Sie war eins mit dem Schuppen geworden.
Oft waren die Tiere sofort tot. Und ein Teil von Emma gönnte ihnen den schnellen Tod, denn eigentlich war sie keineswegs grausam. Doch dieser Charakterzug an ihr war ebenfalls am Sterben und wich einem erstarkenden Publikum, das sich nach weitaus blutigerer Unterhaltung sehnte.
Wenn sie einen besonders gut gezielten Wurf hinbekam, lagen ihre kleinen Opfer noch lange zuckend und zitternd im Staub. Das waren ihre großen Momente. Dann würde sich Emma aus den Schatten erheben und geräuschlos auf die Bühne ihrer kleinen Welt treten. Sie würde sich neben ihre Opfer knien und ihnen beim Sterben zusehen. Ihnen tief in die kleinen, aufgerissenen Augen schauen, so wie Er es damals bei Emma getan hatte, während Er aus ihr alles Leben saugte.
Schnell schüttelte Emma den Gedanken von sich. Ihr gedrängter Körper zuckte wie elektrisiert. Es war irritierend und unpraktisch, nicht zuletzt, weil sie dadurch ihre Position verriet. Jedoch unterstützte es das Vergessen. Es half immer. Für eine Zeit zumindest.
Nur selten zwang sie sich dazu, die toten Ratten zu essen, und auch das nur, um den Prozess der Nahrungsaufnahme nicht gänzlich zu verlernen. Manchmal tat sie es als Belohnung und manchmal als Strafe. Zeitweise aß und trank sie über Wochen hinweg nichts. Es schien hier nicht wichtig zu sein. Wichtig war nur, dass sie nicht gefunden wurde. Nicht von den Wachswesen und nicht von Ihm …
Erneut reichte der Gedanke an Ihn aus, um ihr Herz in Raserei zu versetzen. Eine Lawine an Erinnerungsfetzen drohte sie zu überrollen. Sie unter den Brocken ihres Wahnes zu vergraben.
Eves höhnisches Lachen hallte durch Emmas Kopf.
Nicht jetzt!
Ihre Exekutionen führten zu den wenigen Momenten in ihrem Dasein, in denen selbst die schmähenden Stimmen in ihrem Kopf verstummten, manchmal sogar ein lobendes Wort verloren. Ja, auch diese Momente gab es!
Heute hatte sie kein Glück. Nur eine Ratte am Morgen, aber kein Treffer.
Alle drei der Stimmen hörten auf den Namen Eve. Sie hatten schon immer so geheißen, denn sie waren vom ersten Tag an, an dem Emma das zweifelhafte Geschenk der Selbstreflexion empfangen hatte, in ihr gewesen. Seither hatten Eve, Eve und Eve ihr schmerzlich vorgeführt, dass sich seines Selbst bewusst zu sein, nicht automatisch bedeutete, selbstbewusst zu sein.
Auch ließen sie es nicht zu, einen anderen Namen, einen charakteristischen Beinamen oder – Gott bewahre – eine Nummerierung zugeschrieben zu bekommen. Unerträglich war der Terror in ihrem Kopf gewesen, als Emma es dennoch einmal versucht hatte. Und so musste sie lernen, alleine durch gedankliche Akzentuierung zwischen ihren Begleitern zu unterscheiden.
„Quasselt sie wieder über uns?“ Hämisch, böse …
„Erzählt Geschichten, das dumme Mädchen.“ … Reißen die Sticheleien denn nie ab?
„Wem erzählt sie es?“ Unschuldig schwebt die Frage für einen Moment in ihrem Kopf …
„Sie spricht mit sich selbst. Sie hat ja sonst keine Freunde!“ … um dann mit tödlicher Präzision ins Ziel zu treffen.
Nicht jetzt!
Ursprünglich versteckte sich Emma, weil Er sie nicht finden durfte. Er war nicht mehr der liebevolle Partner, den sie kennengelernt und geliebt hatte. Am Anfang war das natürlich anders gewesen. Damals war Er gebildet, schön und stark. In seiner Aura hatte etwas Mysteriöses gelegen, etwas Faszinierendes. Oh wie hatte sie Ihn verehrt!
Jeden Wunsch hatte Er ihr von den Lippen abgelesen, hatte sie behandelt wie eine Königin. Er hatte all das verkörpert, nach dem sie sich jemals gesehnt hatte.
Emma war nie beliebt gewesen, war nie geliebt worden. Und hatte genau aus diesem Grund ihr Leben lang nach Anerkennung und Zuneigung gelechzt. Nichts war ihr zu teuer erkauft, um wenigstens einen Brocken dieser unbekannten Liebe abzubekommen. Aussehen und Charakter hatte sie jedem Trend hinterhergeworfen. Sie hatte die Drogen geschluckt, die ihre falschen Freunde nahmen und devot verführerisch in die Kamera geschaut, wenn ihr Freund es von ihr verlangte.
Emmas Mutter hatte sie nicht wenige Male daran erinnert, dass es eben dieses selbstverachtende Verhalten war, das ihr wieder und wieder den gleichen Typ an falschen Freunden und Männern zufliegen ließ. Sie hatte sie nicht wirklich verbal darauf hingewiesen oder gar darin beraten sich nicht allem und jedem zu unterwerfen. Nein, sie hatte ihrer Tochter den Spiegel ihrer unweigerlichen Zukunft tagtäglich vorgehalten. Vorgelebt. Auch jede einzelne Beziehung ihrer Mutter hatte letztendlich mit viel Reue und einem blauen Auge geendet. Oder Schlimmerem.
„Bitte sagt mir, ich habe mich verhört. Glaubt sie noch immer, sie sei das Opfer in ihren misslungenen Beziehungen? Du hast zu wenig getan, Emma. Nicht zu viel. Zu wenig! ZU WENIG!“
„Sie ist dumm, rege dich nicht auf. Schau sie dir an. Erbärmliches Stück.“
„Traurig. Sie macht mich traurig …“
„Hast du gehört? Du hast Eve traurig gemacht. Bist du jetzt glücklich?“
Seid still!
Er war anders gewesen. Einst war Er anders gewesen. Nach einer anfänglichen Zeit des Kennenlernens war seine erhabene Zurückhaltung seiner … verführerischen Natur gewichen. Und auch jetzt noch, wenn sie daran dachte wie Er sie damals gehalten hatte und an sich drückte und seine Lippen gegen ihre presste, so dass sie kaum noch Luft bekam und ihr Herz heftig, beinahe schmerzhaft zu schlagen begann. Dann stieg noch immer diese unersättliche Hitze in ihr auf. Es war ein begehrenswerter Schmerz gewesen.
Tief im limbischen System von Emmas Gehirn machte sich Eves trauriges Schluchzen bemerkbar. Emma antwortete nicht darauf. Unmöglich konnte sie bei ihr sagen, ob es ernsthaftes Mitgefühl oder belehrender Hohn war. Eves hysterisches Kichern, hingegen, war eindeutig. Auch ein weniger sensibler Mensch hätte den mit Hass und Verachtung geschwängerten Ton erkannt. Manchmal gelang es ihr, sie alle zu ignorieren. Immer seltener gelang es, sie gänzlich auszublenden.
In einer gerechten Welt hätte diese Zeit mit Ihm nie geendet und sie beide wären bis zu ihrem Lebensende glücklich gewesen. Doch sie endete. Die Welt war nicht gerecht.
Danach hatte es nicht lange gedauert. Wie ein aufziehender Sturm hatte sich sein wahres Wesen angekündigt, bevor die Wolken schließlich brachen und die Hässlichkeit all seiner verdorbenen Facetten herangespült wurde.
Kurz nach ihrer Flucht hatte sie sich eingeredet, sie hätte die Veränderung nicht wahrgenommen und sei nur deshalb noch länger bei Ihm geblieben. Natürlich war das nichts als ein Schutz vor sich selbst gewesen. Denn eigentlich war es wie immer. Sie kannte die Spielart nur allzu gut und hatte gewusst, wie es ausgehen würde, vom ersten Moment an, als Er sie schlug. Es wirkte damals wie aus dem Affekt. Hatte sie einfach nur gehofft, es wäre dieses Mal anders gekommen?
„Oh Emma, es IST anders gekommen.“ Eve gab erneut ein gezwungenes Schluchzen zum Besten. Dann kicherte sie leise.
„Du hast ihn noch geliebt, als er dich regelmäßig gedemütigt hatte!“, sagte Eve. Und eine andere stimmte mit einem hysterischen Lachen ein.
Sie hatten recht. Wie immer hatten sie recht. Er hatte sie gequält … scheinbar zusammenhangslos war Er zwischen Zuneigung und Folter hin und hergesprungen. Emmas Verunsicherung hatte ihn nur weiter angestachelt. Wie ein sadistischer Wissenschaftler fand Er eine tiefe Faszination darin, neue Zenite ihrer Pein zu entdecken. Und danach hatte Er jedes Mal … belebter gewirkt. Geradezu erquickt.
War es die Genugtuung, Ihm diese Freude geben zu können, die sie letztendlich dazu veranlasst hatte an Ihm festzuhalten?
Emma rutschte nervös auf der ihr zugedachten Stelle neben der Werkbank herum. Etwas Kleines, Schwarzes huschte zurück in die Schatten. Die Ratten waren erneut des drohenden Todes erinnert worden. Wenigstens sie waren klug genug die Warnung zu verstehen.
Sie hatte alles über sich ergehen lassen. Am schwierigsten zu ertragen war allerdings die Missachtung mit der Er sie von Zeit zu Zeit strafte. Wie ein uninteressant gewordenes Hündchen hatte sie sich dann gefühlt.
All das war jetzt natürlich egal. Es ging nur noch darum zu überleben. Sie bestand nur noch aus Trieben. Sie war schließlich zu dem Tier geworden, als das Er sie gehalten hatte.
Der Kerker, der Käfig, die anderen Opfer … Ein Bild nach dem anderen brach über sie ein, wie Wellen über den Bug eines zu kleinen Schiffes, weit ab der Küste.
Sein Arm war um sie geschlungen, presste schmerzhaft Brustkorb und Lunge zusammen. Wie eine Würgeschlange wanden sich seine Muskeln immer enger um sie.
Dann kam seine zweite Hand hinzu, drückte ihre Wangen zusammen und ihren Kiefer auseinander. Verlangen spiegelte sich in seinen Augen, Speichel lief Ihm im Mund zusammen, als würde Er zum ersten Mal einen Blick auf die verbotene Frucht werfen.
Emma umklammerte ihre Schienbeine, wippte rhythmisch vor und zurück.
Nicht jetzt. Nicht jetzt.
Sie musste wachsam bleiben. Durfte sich nicht von ihren Gefühlen und Erinnerungen an Geschehenes überwältigen lassen. Überall lauerten Gefahren!
„Lass es zu. Kämpfe nicht dagegen an.“
Erneut war Eve stärker.
Emmas Sichtfeld tunnelte zu einem schmalen Band am Eingang der kleinen Hütte. Das Holz nahm die schwache Farbe Seiner hellen Haut an, das einfallende Licht bildete zwei glühende Augen. Dann splitterte die eingefallene Tür, Balken rissen mit betäubender Bestimmtheit auseinander und setzten sich an richtiger Stelle zu Seinen Zähnen zusammen. Das klaffende Loch am Eingang grinste ihr als Sein aufgerissenes Maul entgegen.
Ihre Welt verwandelte sich abermals in Seine Fratze.
Seine Lippen stülpten sich über ihren aufgezwungenen Mund. Seine Zunge drang in sie ein, wurde länger und länger. Nein. Das, was in ihr war, war länger als Seine Zunge sein konnte. Dann hörte sie Seine Stimme, tief in sich und gegen jede Möglichkeit, war Sein Mund doch auf ihren gepresst.
„Sehe und erkenne, was du bist. Du nährst mich. Du wirst dich hergeben, damit ich lebe.“
Und sie sah.
Sie wollte nicht, aber Er ließ auch nicht zu, dass sie die Augen schloss. Weit aufgerissen brannten sie über Minuten hinweg in der trockenen Luft.
Es war so seltsam gewesen. Als hätte Er etwas aus ihr herausgesaugt. Und dann rotierten ihre Augen nach innen. Endlich schlossen sich ihre Lider. Es war das Letzte, an das sie sich erinnern konnte.
Eigentlich war ihre Beziehung mit Ihm schnell zusammengefasst: Anfangs hatte sie Ihn für einen Gott gehalten. Bald darauf für einen Mann wie all die anderen vor ihm. Jetzt wusste sie, dass Er ein Dämon war.
„Wie unnötig theatralisch …“
„Er ist nicht dein größtes Problem, Mädchen. Er wäre vielleicht die Lösung gewesen. Nicht aber das Problem.“
„Ich fand ihn süß. Er war gefährlich. Das mochte ich an ihm. Das mochtest du an ihm!“
Unter der Maske aus Dreck und Blut verzog sich ihr Mund zu einer weinerlichen Grimasse. Die Erinnerung machte sie wütend, aber vor allem schämte sie sich noch immer.
Und ja, Emma versteckte sich nicht nur vor Ihm. Auch damit hatten die Eves nicht unrecht.
Eine unbestimmte Zeit nach seinem letzten Kuss war sie auf der Pritsche einer Zelle aufgewacht. Ihre verschwommenen Augen brauchten Zeit bis sie die anderen, angereihten Zellen erfassten. Ihr Gehirn noch länger, um darin die weiteren Halbtoten zu erkennen.
In ihrem Mund hatte sich der säuerlich, ätzende Geschmack versammelt, der ihr nur allzu gut aus den Tagen ihrer Bulimie vertraut war. Ihre Kleider waren eingenässt. Von Schweiß oder Urin, sie wusste es nicht zu unterscheiden. Alles an ihr hatte nach verdorbenem Leben gestunken.
Dann hatte sie ein krampfhafter Impuls nach vorne geworfen. Die Kontraktion ihrer Bauchmuskeln hatte so sehr geschmerzt, dass sie beinahe erneut ohnmächtig geworden wäre. Lediglich der Schwall an Erbrochenem hielt sie bei Bewusstsein. Dicke Blutbrocken hatte sie damals aus ihrem Rachen hervorgewürgt.
Nach all dem war sie nicht mehr dieselbe gewesen. Wie hätte sie das auch können? Alles hatte so gut angefangen. Aber sie hatte fliehen müssen.
Das Türchen ihrer Zelle war nicht verschlossen gewesen. Und noch heute wunderte sie sich darüber: All die anderen … sie hätten jederzeit gehen können. Warum sind sie nie geflüchtet? Hatten sie es bereits zuvor versucht? Hatten sie aufgegeben?
„Sie wussten, dass es hier noch viel schlimmer sein würde! Du hast es selbst gesehen, Dummchen“, zischte Eve.
„Auch wussten sie, was ihnen zustand. Sie hatten genug Anstand ihren Platz im Leben zu kennen!“
Emma strich sich durch die fettigen Haare. Staub und Dreck ihrer Hände blieben darin hängen. Sie war ein wildes Tier geworden und wie ein solches trieb sie sich seit Wochen im Wald herum, in Höhlen und jetzt auch in leerstehenden Hütten.
„Ich finde, sie ist undankbar“, warf Eve enttäuscht ein.
„Du siehst ja, was sie davon hat“, erwiderte Eve ihrer Glaubensschwester in bissigem Ton. „Seither ist sie auf der Flucht vor diesen Wachsmenschen.“
„Die Sukajs. Schau dir an, was sie mit deiner Schulter gemacht haben, Mädchen. Die Wunde wird nie mehr richtig heilen. Sie wird dein Ende sein. Aus. Vorbei. Bist du immer noch froh, geflüchtet zu sein?“
Eve brach in schrilles Gelächter aus.
Emma brauchte keine Erinnerung an die Verletzung. Sie schmerzte jeden Tag. Dennoch zuckte ihr Kopf nun mehrmals spastisch zur Seite und schlug gegen ihre linke Schulter, wo die eitrige Wunde klaffte. Viermal. Sie musste es immer viermal tun, dann würde der Schmerz vergehen, die Erinnerung an den Zwischenfall vorbeiziehen. Für eine Zeit zumindest.
Dort an der Schulter hatte sie eines der schrecklichen Wesen bei ihrer letzten Begegnung erwischt. Sie waren schnell, trotz ihrer Unterkörper, die wie heißes Wachs mit dem Boden verschmolzen. Bisher war sie schneller gewesen, aber dieses eine Mal hatten sie Emma überrascht. Das würde nicht erneut passieren.
Sie war jetzt wachsamer. Schlief nur tagsüber, denn sie mieden das Licht. Und Emma war erneut näher an das Anwesen herangerückt. Dort trauten sie sich nur selten hin, aus Angst vor Ihm vielleicht sogar gar nicht. Bisher hatte sie Glück gehabt. Es war ein gutes Versteck.