Die Arbeit stapelt sich auf dem Studiertisch des großen Thales von Milet. Wäre da nur nicht dieser Bernstein, der ihm alle Aufmerksamkeit raubt! Wieder und wieder reibt er Wolle gegen den kleinen Stein, der daraufhin eine Feder auf scheinbar magische Weise festhält. Doch was dann passiert, hätte sich nicht einmal der große Philosoph ausmalen können.

Die Büchse der Pandora

„Ihr Götter des Olymps, habt
Nachsicht mit einem alten Narren!“
Die Büchse der Pandora
Auf meinem Studiertisch türmen sich Papyrus und Wachstafeln mit Theorien, die nach Vollendung rufen, die mich anflehen, sie zu perfektionieren, um ihnen und mir Erlösung zu bringen. Karten des Himmelszeltes sind am Boden verteilt. Schriften aus Mesopotamien und Poesie von Homer und Hesiod achtlos beiseitegeschoben.
Meine ganze Aufmerksamkeit gilt dem roten Bernstein in der Mitte des Tisches. Einst ein Geschenk aus Ägypten ist er jetzt der Grund für schlaflose Nächte und die liegengelassene Arbeit.
Endlich fließt der letzte Tropfen durch die Wasseruhr. Es ist Zeit, das Experiment zu wiederholen. Ich zupfe ein Stück Wolle aus einem Beutel und reibe es gegen den Stein. Nichts verändert sich – nichts Sichtbares. Dann nehme ich die Feder eines Huhns und bringe sie nahe, ganz nahe an den Bernstein heran. Ich lasse sie los und sie bleibt am Stein kleben, wie die Kotze im Bart eines Seefahrers.
„Unglaublich!“
Ich greife nach der Weinkaraffe und fülle den Becher auf. Als er beinahe überläuft, leere ich ihn in drei großen Schlucken.
„Fantastisch!“, entfährt es meiner geölten Kehle. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und formuliere in Gedanken meine Theorie.
Die Luft knistert und zischt, als hätte meine Entdeckung Zeus’ fürchterlichen Zorn beschworen. Ich drehe den Kopf und falle schreiend vom Stuhl. Inmitten meines Zimmers schwebt ein kreisförmiger Blitz.
„Ihr Götter des Olymps, habt Nachsicht mit einem alten Narren!“
Wie zur Antwort stolpert ein Mann aus dem blitzenden Portal.
„Thales? Thales von Milet?“
Ich nicke wiederholt, als könnte ich meinen Augen erst trauen, nachdem sie durchgeschüttelt wurden. Nie zuvor habe ich einen derart lächerlich gekleideten Mann gesehen. Er trägt eine Hose, die selbst unter den Barbaren verschrien wäre, aus sonderlichem Stoff und zu kurz für seine Beine. Darüber ein ärmelloses Gewand. Bunt und mit Buchstaben bemalt, die den unseren ähneln, aber nicht die unseren sind, und die Bedeutung ihrer Abfolge ist mir fremd.
„Endlich finde ich Sie“, sagt er und streckt mir eine zarte Hand entgegen, für die ihn jedes Weib beneidet hätte. „Thomas Van-Eugen. Ich komme mit einer Warnung. Die Entdeckung, die Sie gemacht haben. Sie müssen sie vernichten!“
„Vernichten?“, frage ich und wundere mich, wieso mir unter all meinen brillanten Arbeiten gerade ein klebender Stein den Besuch einer Gottheit einbringt. „Was ... ist die Entdeckung?“
„Elektrizität!“, sagt Van-Eugen und hebt den Zeigefinger. „Schreckliches wird daraus entstehen. Sie müssen sich gegen die Erforschung dieses diabolischen Stroms entscheiden.“
Ein Klingeln aus seiner Hose lässt ihn verstummen.
„Einen Moment.“ Van-Eugen zieht ein rechteckiges Kästchen aus der Tasche und hält es vor sein Gesicht. Aus der mir zugewandten Seite leuchtet ein Lichtblitz auf, dann trommelt er mit beiden Daumen auf das Objekt ein, während er murmelt: „Bin bei Thales. Hattest recht. Es stinkt nach Ziegen.“
Ich verschränke die Arme und vergrabe die Hände unter den Achseln.
„Wo war ich stehengeblieben? Ah. Wie Sie zweifelsohne gefolgert haben, bin ich nicht von hier, sondern aus der Zukunft. Zweieinhalbtausend Jahre bin ich durch dieses Portal gereist, um Sie über die Konsequenzen Ihrer Entdeckung ...“
Wieder das seltsame Klingeln, schrill wie der Schlag gegen eine Bronzeschale. Van-Eugen zaubert das Kästchen hervor, lacht und wischt. Dann hält er es näher an den kreisrunden Blitz. Hatte er tausende von Jahren gesagt?
„Das WLAN reicht ... ach was würden Sie davon verstehen?“ Er spricht, ohne aufzusehen, glotzt auf die handgroße Schachtel und wischt mit dem Finger darüber.
„Was ist das?“
Mit angestrengtem Gesicht reist sich Van-Eugen los und verbannt das Kästchen in seine Hosentasche. „Ihr observiert das Problem. Unsere Gesellschaft bricht zusammen. Zuerst war es nett. Licht, Energie, Musik. Überall. Dann wurden diese Dinger erfunden und alles ging vor die Hunde. Die wenigsten Menschen wissen noch miteinander umzugehen. Nur wegen dieser Geräte, aber angefangen hat es mit der Elektrizität.“
„Die Büchse der Pandora!“, rufe ich. Das Behältnis aller Übel und Leiden.
„Was? Nein! Wir nennen sie Handys. Es sind kleine Rechenmaschinen, aber wir nutzen sie ausschließlich ...“
Ping.
Schon ist es zurück in Van-Eugens Hand. „Sehen Sie sich das an.“
War das Kästchen auf der Rückseite von schwarzem Leder umhüllt, ist es auf Van-Eugens Seite das Tor in eine fremde Welt. Eine Katze, so klein, als betrachte ich sie aus der hintersten Reihe des Theaters, springt von einem Tisch und wirft eine Schüssel um. Sie verschwindet ohne Spur und sofort darauf jagt ein Hund einem Pferd hinterher – beide nicht größer als die Katze. Van-Eugen lacht, wischt mit dem Finger über die Szene und zaubert ein neues Bild hervor.
„Lustig, nicht?“ Er wischt weiter. „Werbung“, brummt er missmutig, dann schleicht die nächste Katze über das Miniaturtheater und sein Lächeln ist zurück.
Das Krähen des Hahnes und die steigende Sonne durchbrechen die Nacht.
„Davor habe ich gewarnt“, sagt Van-Eugen und drückt das Kästchen von sich. Hunderte dieser Inszenierungen muss es uns gezeigt haben.
„Vernichten Sie Ihre Aufzeichnungen, bevor es zu spät ist!“
„Ich habe keine. Es ist nur dieser Bernstein, etwas Wolle und eine Feder.“
„Umso besser. Werdet sie los!“
„Warum sollte ich?“, frage ich, zunehmend zuversichtlich, dass Van-Eugen keine Gottheit ist.
Mit einem Satz ist er vor meinem Studiertisch, schnappt sich die genannten Gegenstände und wirft sie aus dem Fenster. Sofort stürzen sich zwei Bettler darauf und rennen mit dem Stein davon.
Noch für einen Moment spielt das Kästchen die immergleiche Musik, lockend wie der Ruf der Sirenen. Dann verstummt es und mit dem Geräusch verschwindet das blitzumwobene Portal.
Van-Eugen betrachtet seine zarten Finger, als müssten auch sie verschwinden. „Man sagte mir, es gäbe eine zehnprozentige Chance, dass das passieren würde.“ Er überprüft das leblose Kästchen, schiebt es zurück in seine Hosentasche. „Nun, so schlimm kann es hier nicht sein.“ Sein Blick gleitet durch mein Studierzimmer. „Was mag einer wie Sie in seiner Freizeit tun?“
„Wir haben echte Katzen und Hunde. Und allerlei Ungeziefer.“
„Ungeziefer, so? Hm.“ Van-Eugen wippt von den Zehen auf seine Ballen und klatscht einmal vor der Hüfte in die Hände, dann dahinter. Das Weiß in seinen Augen wächst und ich spüre, wie seine Langeweile in Verzweiflung umschlägt.
„Sagen wir, ich bringe Ihnen den Stein zurück. Ist es zu spät, Ihre Forschung fortzuführen?“