Es heißt, erst wer den Tod akzeptiert, darf das Leben genießen. Wer aber das Buch der Toten aufschlägt, findet eine Alternative. Doch was ist Finn bereit zu opfern, um noch einmal seinen Bruder zu sehen?
Der kleine Nekromant
„Tot, doch lebend. Die Stimme erhebend,
rufe ich dich zurück.
Kenne deinen Retter und erkenne dein Glück.
Mein Blut wird zu deinem, dein Leiden zu meinem.
Trage den Funken des Lebens noch einmal in dir,
nähre ihn gut und lasse ihn keimen.“
Kapitel 1
Finn zweifelte nicht an der Richtigkeit seines Tuns, als er das Huhn in die Mitte des Pentagramms legte. Er tat es nicht, als er das Buch der Toten öffnete. Finn zweifelte nicht mehr.
Das Huhn wehrte sich nicht. Es hatte weder Füße noch Federn. Finn setzte sich im Schneidersitz davor und legte die Hand an den Stummel, wo einst der Kopf mit dem Schnabel gesessen hatte. Wie ein Arzt fühlte er die Temperatur. Es war kalt. Eisig kalt.
„Das könnte schwierig werden“, sagte Finn zu dem Huhn. Es war noch immer gefroren.
Mit Würmern hatte es funktioniert. Mit Ameisen, Käfern und sogar mit einer Spinne, die so groß wie ein Tassenuntersetzer gewesen war. Umso kleiner das Wesen und umso leichter, desto einfacher war die Beschwörung. Aber ein totes Insekt auferstehen zu lassen, war nie das eigentliche Ziel gewesen. Er musste sich vorantasten, sich an größeren, komplexeren Lebewesen versuchen. Um Erfolg zu haben, musste er ein Wagnis eingehen.
Aber ein Huhn, das seit Wochen kopflos in der Gefriertruhe seiner Mutter lag?
Die Waschmaschine wechselte in den Schleudergang und riss Finn aus seinen Gedanken. Er hob das Huhn auf und legte es auf den Trockner, so behutsam, als hätte er ihm bereits ein zweites Leben eingehaucht. Er nahm ein Handtuch aus dem Wäschekorb, tauchte es in das Waschbecken, das er vorsorglich mit Wasser gefüllt hatte, und wischte die roten Linien auf. Mutter verstand nicht, was er im Keller tat, aber sicher war sicher. Das eine Mal, als sie ihn mit dem Buch der Toten in der Hand erwischt hatte, hatte sie lachend den Kopf geschüttelt. „Ihr Kids und eure verrückten Subkulturen“, hatte sie gesagt.
Finn wusste nicht, was eine Subkultur war, aber verrückt war er nicht. Das, was im Buch stand, funktionierte tatsächlich. Die Ameise war tot gewesen und die Spinne auch. Dann hatte er sich mit einem Messer in den Finger geschnitten und ein kleines Pentagramm auf den Boden gezeichnet. Ein Stern, der ohne Absetzen gezeichnet werden konnte. Der Schnitt hatte furchtbar gebrannt, aber Finn war so aufgeregt gewesen, dass er es kaum wahrgenommen hatte. Dann platzierte er nacheinander eines der Insekten in der Mitte des Symbols – obwohl eine Spinne gar kein Insekt, sondern irgendetwas anderes war, aber das spielte keine Rolle, noch machte das Buch der Toten hier eine Unterscheidung. Diese machte es nur für kleine Tiere, größere Tiere, sehr große Tiere und Menschen – und dann hatte er die Formel ausgesprochen. Kurz darauf waren die Tierchen davongewuselt.
Finn war so stolz gewesen, dass er die Spinne noch einmal mit einem Glas eingefangen und mit der alten Polaroidkamera seiner Mutter fotografiert hatte. Zeigen würde er das Bild natürlich niemandem, denn das Foto hätte jede x-beliebige Spinne unter einem Senfglas abbilden können. Und dennoch hing das Bild seither über seinem Bett – zur Erinnerung an seine Mission und um nicht zu vergessen, dass es Wunder gab.
Finn stöhnte, stand auf und warf das Handtuch in den Wäschekorb. Dann hielt er die Hand unter den Wasserhahn. Der Schnitt führte von Daumen bis zum kleinen Finger seiner Handinnenfläche. Darüber klaffte das weiße Fleisch auf. Für das Huhn hatte er ein größeres Pentagramm benötigt, als für die Insekten, und dafür wiederum mehr Blut.
„Finn?“, ertönte die Stimme seiner Mutter. Dann noch einmal lauter, denn die Tür zum Waschkeller war aufgegangen. „Finn, bist du unten?“
„Ja, Mom.“
„Zeit fürs Bett. Bitte pack deine Tasche. Morgen ist Dienstag, da hast du Sport. Vergiss das Handtuch nicht. Unten müsste ein Korb mit frischen stehen.“
„Schon gefunden“, rief Finn und schnappte sich ein weiteres Handtuch.
„Gut. Zähneputzen und ab ins Bett.“
Kapitel 2
Finn nahm die Tupperdose aus seiner Schultasche und legte sie vorsichtig aufs Bett. Er schleuderte die Tasche ins Eck, nahm den Deckel der Tupper ab und rümpfte die Nase. Es stank nach Verdorbenem und Morast.
Heute Morgen, bevor er das Haus verlassen und die Linie Fünf zur Weststadt bis kurz vor die Goethe-Gesamtschule genommen hatte, hatte Mutter ein Käsesandwich mit zwei Scheiben Gurke in die Tupperdose gepackt. Jetzt lag ein aufgeschnittener Frosch darin. Ein Rana Temporaria oder Grasfrosch, wie die Biolehrerin festgestellt hatte. Frau Schuster hatte den Zeigefinger gehoben und Finn den Namen des Tieres sorgfältig von der Tafel abgeschrieben.
Ein langer Schnitt führte durch den Bauch des Frosches. Aber die Innereien waren, dort wo sie hingehörten. Er hatte achtgegeben, sie nicht zu verletzen.
Finn schloss die Dose und klemmte das Buch der Toten unter den Arm. Mutter war einkaufen. Das dauerte mindestens eine Stunde.
Im Keller setzte er sich auf den Boden und klappte das Taschenmesser auf. Er atmete tief ein, kniff die Augen zusammen. Sein Mundwinkel zuckte. Er presste die Lider noch fester aufeinander. Dennoch quetschte sich eine Träne hindurch. Und eine zweite.
Sobald sich genug Blut in seiner Handfläche angesammelt hatte, tupfte er den Finger in die Lache, als wäre es eine Farbpalette aus dem Kunstunterricht, und begann den Stern zu zeichnen. Die Fliesen waren kalt und die Striche trockneten schnell. Das Blut reichte für die ersten drei Seiten des Sterns, so dass sein Werk nun wie eine schiefe Vier aussah. Er fuhr erneut mit dem Finger durch die Hand, kniff die Augen zusammen und zielte, um die Zeichnung an der gleichen Stelle fortzuführen.
Als der Stern vollständig war, platzierte er den Frosch in der Mitte.
„Tot, doch lebend. Die Stimme erhebend“, sagte Finn und wurde lauter: „Rufe ich dich zurück. Kenne deinen Retter und erkenne dein Glück. Mein Blut wird zu deinem, dein Leiden zu meinem. Trage den Funken des Lebens noch einmal in dir, nähre ihn gut und lasse ihn keimen.“
So stand es im Buch der Toten.
Finn sah zur Treppe und lauschte.
Die Tür knarrte, schwang einen Spalt auf und knarrte erneut, als sie stehenblieb. Auf der obersten Stufe kullerte ein Kieselstein zur Seite und fiel seitlich zwischen den Streben des Treppengeländers hindurch. Von der Stufe darunter wirbelte Staub auf und glitzerte im Schein der Deckenlampe. Dann auch von der nächsten und der übernächsten Stufe. Kleine Partikel tanzten entlang des Lichtkegels zur Decke. Der Windstoß streifte seine Knöchel. Ganz schwach, nicht stärker, als wenn er selbst mit gespitzten Lippen gegen seine Hand blies.
Bei der Spinne war der Windstoß noch schwächer gewesen. Falls es bei der Ameise einen gegeben hatte, hatte er ihn nicht bemerkt.
Er legte den Grasfrosch zurück in die Tupperdose. Sein Herz schlug schwach, aber dort wo er ihn aufgeschnitten hatte, war nur noch ein schwarzer Streifen.
„Ich bin Finn“, sagte Finn. „Jetzt kennst du deinen Retter.“
Er legte eine Hand über die Dose und brachte den Frosch nach draußen in den Garten, wo er ihn freiließ.
Hätte Timmy ihn nur sehen können. Seine Augen hätten geleuchtet, er hätte gelacht und wäre auf allen vieren hinterher gehüpft, als wäre er selbst ein Frosch. Für ihn wäre es kein größeres Wunder gewesen, als hätte Finn das Tier lebendig von der Schule mit nach Hause gebracht. Timmy hätte sich über den Frosch gefreut, einfach nur, weil er ein Frosch war und über die Spinne, weil sie eine Spinne war. Andererseits hätte Finn dann nie ein Wunder gebraucht.
„Nähre deinen Lebensfunken, kleiner Frosch“, sagte Finn.
Er grinste noch, als er die Treppen zu seinem Zimmer hinaufstieg, die Jacke abstreifte und die Schuhe ins Eck kickte. Dann legte er sich ins Bett. Sein Bauch schmerzte, als hätte jemand ein Messer hineingerammt.
Kapitel 3
Das Problem an seinem Vorhaben war: selbst wenn der Spruch bei einem Menschen wirken sollte, so musste er dessen Körper bei sich haben. Ihn in den Waschkeller seiner Mutter schleppen und auf ein Pentagramm aus Blut legen.
Finn wäre bereit gewesen, die Leiche seines kleinen Bruders auszugraben. Und wann immer sich die Frage aufdrängte, ob er das wirklich gekonnt hätte, antwortete er sich mit einem schnellem „Ja“. Vielleicht mit einem zu schnellen „Ja“. Denn insgeheim war er froh, dass es nie zu dem Moment kommen würde, in dem er dies beweisen musste. Nach über einem Jahr unter der Erde war Timmys Leiche kein geeigneter Körper mehr für dessen Seele.
Glücklicherweise sprach das Buch der Toten von einer Alternative. Es war möglich, den Geist eines Verstorbenen zurück in die Welt der Lebenden zu bringen, sofern ihm ein anderer lebloser Körper zur Verfügung gestellt wurde. Eine andere Leiche.
Wie es sich anfühlen würde, wenn Timmy endlich zurück ins Leben kam? Wenn er sein Blut gegen Timmys Leiden tauschte? Würde er die Krankheit spüren? Würde sie weh tun? Würde er sein schwaches Herz spüren, das im Krankenhaus pulsierende Berge und Täler auf den Monitor gemalt hatte und dann plötzlich aufhörte und die Linie als piepsende Gerade zurückließ?
Finn lehnte sich über die Absperrung, die an dieser Stelle der Autobahn nur aus einer hüfthohen Leitplanke bestand. Ein blauer Lieferwagen schoss an ihm vorbei, hupte. Vielleicht würde bald jemand die Polizei rufen, wenn er noch länger an der Straße herumstand.
Natürlich wollte und konnte er niemanden umbringen. Nicht einmal für die wichtigste Mission der Welt – allein der Gedanke war lächerlich. Finn wollte Leben schenken, nicht weiteres nehmen. Aber wenn er einen toten Menschen finden würde?
Eigentlich war er froh, dass es keinen Unfall gegeben hatte. Er wollte niemanden sterben sehen. Davon abgesehen hätte er die Leiche kaum auf dem Fahrrad nach Hause balancieren können.
Was hatte er sich nur dabei gedacht? War er wirklich so naiv gewesen? Er verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Umarmung, die weder Trost noch Wärme spendete. Sein Kopf schnellte von links nach rechts, als ein Porsche 911 mit aufheulendem Motor vorbeiraste. Vor Timmys Tod hatte er sich für schnelle Autos interessiert. Überhaupt hatte er sich davor für Dinge interessiert, die nichts mit seinem Bruder zu tun hatten. Jetzt wollte er ihn nur noch zurückhaben. Er schaute dem Sportwagen hinterher und in diesem Moment sah er das Rehkitz. Die Hinterbeine ragten unter der Leitplanke hervor, der vordere Teil des Tieres war davon verborgen, als hätte es sich zum Schlafen darunter gelegt. Es würde in den Fahrradkorb passen.
In Gedanken hakte Finn ab: Kleine Tiere – Ameise, Spinne und Frosch. Größere Tiere – das kleine Reh. Sehr große Tiere – ein Bär? Eine Kuh? Das war unmöglich.
„Ein letzter Test.“
Danach würde er sich an Timmy wagen.
Kapitel 4
„Aber er wird es überleben. Sagen Sie schon! Mein Sohn wird überleben! Er … Ich kann nicht noch ein Kind verlieren!“
Finn blinzelte. Ganz schwach. Zu schwach, um den wässrigen Schleier vor seinen Augen beiseite zu wischen. Dahinter schimmerten eine weiße Decke und Neonlicht hervor.
„Ihr Sohn hat viel Blut verloren“, antwortete ein Mann. „Aber sein Zustand ist stabil. Wissen Sie was ...?“
Finns Kopf brummte. Ein schrilles Piepsen füllte seine Ohren und drängte die Worte in den Hintergrund.
„Mein Sohn würde niemals versuchen, sich umzubringen!“, schrie die Frau über das Dröhnen hinweg.
War das Mutter? Das dicke Kissen verhinderte, dass er den Kopf weit genug zur Seite drehen konnte, um die beiden zu sehen. Sie klang wütend. So sehr, dass die Wut beinahe die Traurigkeit und die Sorge in ihrer Stimme verdeckt hätte. Doch nachdem Timmy gestorben war, hatte Finn ein feines Gefühl dafür entwickelt, andere Menschen zu lesen. Und diese Frau war verzweifelt.
„Die Schnitte hat er sich eindeutig selbst zugeführt“, sagte der Mann. „Haben Sie nicht das Messer bei ihm gefunden?“
„Vielleicht musste er sich wehren, gegen dieses ... dieses Reh? Wer hat dieses verdammte Reh in meinen Keller gelassen?“
Finn erinnerte sich. Er hatte das Rehkitz in den Fahrradkorb gelegt. Da die Beine des Tieres steif und abgespreizt aus dem Korb hingen, hatte er es mit seiner Jacke abgedeckt. Daheim hatte er es im Garten versteckt, hinter dem großen Wacholderbusch. Kurz darauf war Mutter nachhause gekommen. Daher hatte er es erst am nächsten Morgen in den Keller gebracht. Das war Samstag gewesen. Er musste nicht zur Schule und Mutter war zum Yoga gefahren. Das Reh war nicht mehr steif gewesen, wie am Vortag. Das hatte er als gutes Zeichen gedeutet.
Seine Innenhand hatte noch von der Erweckung des Frosches geschmerzt. Deshalb hatte er sich in den Unterarm geschnitten. Er war kaum hinterhergekommen, das viele Blut in die Form des Pentagrammes zu bringen. Dann war es zu klein gewesen, so dass der Kopf des Rehkitzes nicht innerhalb des Zirkels lag, den man durch gedachte Linien zwischen den Ecken des Sterns ziehen konnte.
Das zweite Pentagramm zeichnete er größer. Er konnte das Reh kaum noch hochheben, so schwer fühlte es sich plötzlich an. Die Linien verwischten, als er es vom einen Beschwörungszirkel in den anderen zog. Dennoch hatte er die Formel gesprochen, leise und langsam, als müsste er nach jedem Wort in seinem Gedächtnis suchen. Dann erinnerte er sich nur noch daran, dass er auf der Seite lag, sein Kopf wenige Zenitmeter von der Schnauze des Rehs entfernt. Die Beine des Tieres zuckten und strampelten, als wollte es losrennen. Aber es lag noch immer auf der Seite und die Krallen kickten ins Leere. Hatte es überlebt? Hatte er ihm den zweiten Lebensfunken geschenkt?
Der Mann gab ein Geräusch von sich, ganz ähnlich dem, das Mutter machte, wenn Finn zum hundertsten Male fragte, ob er zu Weihnachten ein Skateboard bekäme.
„Nein, das müssen Sie mit der Polizei besprechen. Ich muss Sie bitten, das Zimmer zu verlassen. Finn braucht Ruhe. Die anderen Patienten auch.“
Die Frau, die Mutter sein musste, wurde noch wütender. Doch dann entfernten sich die Stimmen und der Schleier vor Finns Augen wurde dichter und verschluckte einen Sinn nach dem anderen.
Finn erwachte mit schweißnassen Händen. Jemand beobachtete ihn. Hatte beobachtet, wie er geschlafen hatte und beobachtete jetzt, wie er versuchte sich im Bett aufzusetzen. Seine Arme knickten ein, bevor sie die Schwerkraft überwinden konnten. Er stöhnte unter der Anstrengung. Das Licht war grell. Ihm war heiß, wie in einer fiebrigen Nacht. Er hielt die Luft an.
Der Mann, am anderen Ende des Zimmers, kicherte schrill und hoch, aber grunzte tief und kehlig, als er sich unter der Bettdecke hervor kämpfte. Seine Füße setzten mit einem „Tap-tap“ auf den Fliesen auf, das an den Flossenschlag eines gestrandeten Fisches erinnerte und schlurften auf Finns Krankenbett zu.
Finn wurde es noch heißer. Wieder versuchte er, sich aufzurichten. Wieder klappten seine Arme ein.
„Mach dir keine Mühe.“
Noch kam die Stimme vom Ende seines Bettes. Dann tauchte neben Finn ein Gesicht auf, so runzlig wie eine zu lange liegengelassene Möhre. Auf der großen Nase des Mannes wippte eine Warze. Darüber lagen zwei grüne Augen, trüb und blind und tief in den Höhlen versunken.
„Deine Wahrnehmung ist so scharf wie meine“, krächzte der Mann, doch weder sahen seine Augen in Finns Richtung, noch bewegten sich die Pupillen unter dem milchigen Schleier.
„Sie … Können mich sehen?“, fragte Finn.
„Oh nein, nicht mit diesen zwei nutzlosen Dingen.“ Er lachte. „Doch im Geiste sehe ich dich klar und deutlich. Du bist Finn, nicht wahr?“
„Ja“, sagte Finn. „Und Sie?“
„Ich?“ Der Mann überlegte. „Ich? ... Du kannst mich Silas nennen. Kein Grund mich zu Siezen oder für andere Formalitäten, lieber Finn. Ich werde bald sterben. Wolltest du auch sterben? Hast du versucht, dich umzubringen, wie der Doktor vermutete?“
„Nein! Ich wollte … ich wollte …“ Finn zwinkerte die Tränen beiseite. „Ich wollte doch nur …“ Er schluchzte. „Vielleicht wäre es das Beste gewesen.“
„Blödsinn“, sagte Silas. „Du wolltest das Reh retten, nicht wahr?“ Die Falten links und rechts seines Mundes zogen sich in die Länge und wurden zu einem breiten Lächeln. „Du erinnerst mich an jemanden, an einen jungen Mann, den ich einst kannte.“ Silas nickte nachdenklich. „Ja, er muss einst jung gewesen sein. Jetzt ist er alt und runzlig und er wird bald sterben.“
„Sie meinen ...“ Finn brach ab. Es war seltsam, den alten Mann zu duzen. Andererseits erschien es ihm unhöflich, sich seinem Wunsch zu widersetzen – egal, ob er tatsächlich bald sterben würde oder nicht. „Meinst du dich damit selbst, Silas?“
„Damals hieß der junge Mann noch anders. Er hatte viele Bücher gelesen. Hatte sie geliebt. Bis er auf ein spezielles Buch traf. Es war in schwarzes Leder eingebunden und in das Leder waren rote Zeichen eingebrannt. Nachdem er es gelesen hatte, war er nicht mehr so jung gewesen und nie wieder hatte er ein Buch angefasst.“
„Warum?“
„Aus Angst.“
„Angst vor was?“
„Dieses Buch hätte nie existieren dürfen, Finn. Der junge Mann und du: Ihr hättet niemals darin lesen dürfen. Manchmal ist es besser zu akzeptieren. Wir können die Toten nicht zurück ins Leben bringen. Und die wenigsten Toten wollen zurück in ihr altes Leben.“
„Aber bei meinem Bruder war es anders! Timmy ist zu jung gestorben.“
„Ich weiß“, sagte Silas traurig.
„Er hatte diese seltene Krankheit, die Ärzte wussten nicht, was es war. Dann ist er gestorben. Einfach so … Aber er durfte noch nicht …“
„Ich weiß“, hauchte Silas. Er strich über Finns Wange. Seine Hand war warm und weicher, als Finn vermutet hätte.
„Es ist seltsam.“ Silas lachte, doch es lag keine Freude in seiner Stimme. „Seit Jahren habe ich auf eine Möglichkeit gewartet, um zu verzeihen. Ich habe dafür gebetet, mir verzeihen zu können, für das, was ich getan habe. Was das Buch mich hat tun lassen. Nur eine Gelegenheit, eine kleine Chance, mir selbst zu vergeben. Mehr wollte ich nicht. Und hier, im Krankenhaus, zweifellos der letzten Station meines Lebens, habe ich aufgegeben. Doch dann kamst du. Gib mir deine Hand.“
Finn brachte den Arm unter der Decke hervor. Er war blass und dünn. Ein dicker Verband war um sein Handgelenk gewickelt, dort, wo er mit seinem Taschenmesser in das Fleisch geschnitten hatte. In seiner Armbeuge steckte ein langer Schlauch, der oberhalb des Bettes in einer Apparatur verschwand.
Etwas Kaltes landete in seiner Hand. Silas drückte Finns Finger zusammen, bis sie den Gegenstand umschlossen. Seine Lippen bewegten sich doch die Worte blieben unverständlich, als spräche er ein Gebet, das nur Gott hören sollte, alleine in der leeren Kirchenbank kniend.
„Was ist das?“, fragte Finn, als er fertig war.
„Es wird Timmy nicht zurückbringen. Nichts wird das. Begehe nicht den gleichen Fehler, wie ich.“ Silas Hand ruhte auf der von Finn. „Wo auch immer er jetzt ist, ob an einem besseren Ort oder in einem neuen Leben, einmal im Jahr, in der Nacht zu seinem Geburtstag, wirst du mit deinem kleinen Bruder sprechen können. Ihr werdet im Traum miteinander verbunden sein. Timmy wird sich an dich erinnern und er wird sein, wer er damals war. Es wird sein, als wäre er noch immer bei dir.“
Finn brachte die Hand zu seiner Brust und öffnete langsam die Finger. Es war ein Stein, oval und glatt und beinahe vollständig grau. Nur ein roter Streifen aus kleinen Kristallen durchzog die Oberfläche und umrundete die lange Seite des Steins wie ein funkelnder Ring.
„Es sind tausende, kleine Steinchen“, sagte Finn und fuhr mit dem Finger über den Ring. „Wird es wirklich …?“
Die Tür schwang auf und knallte gegen die Wand. Finn fuhr nach oben und dieses Mal gelang es ihm, die Arme durchzudrücken.
„Ach verdammt“, rief die Krankenschwester. Aus ihren Händen war ein Tablett gerutscht, auf dem sie drei Teller, gefüllt mit einer braunen Pampe, ins Zimmer gebracht hatte. Für einen Moment glaubte Finn, dass sich Silas in Luft aufgelöst haben musste oder sich lächerlicherweise hinter Finns Bett versteckte. Doch dann fand er den blinden Mann in seinem Krankenbett, auf der anderen Seite des Zimmers. Er sah friedlich aus. Eingehüllt in seine Decke, als wäre er nie zu Finn gekommen, als hätte er nie mit ihm gesprochen und nie den Stein gegeben.
Er bewegte sich nicht.
„Scheiße“, rief die Schwester. „Ich brauche einen Arzt in Zimmer 403.“
Scherben, klein wie Cent-Stücke, rollten über die weißen Fliesen. Die braune Pampe klebte am Boden, an Silas Bettgestell und am Schuh der Krankenschwester. Sie schaute von Silas’ EKG zu der Sauerei und wieder zurück zu dem Gerät. Es piepste, wie damals bei Timmy. In nur einer Woche wäre er fünf geworden.