Als eine der Letzten ihres Volkes, gibt die Elfe Peiya Shej eine begehrte Trophäe ab. Nachdem sie ausgerechnet in ihrem eigenen Wald einem Fänger der grobschlächtigen Menschen in die Hände fällt, wird sie an einen Wanderzirkus verkauft. Dessen Hauptattraktion ist ein ebenfalls elfischer Magier. Er kommt ihr vertraut vor, doch unmöglich kann er ihre verlorene Liebe von früher sein. Ist dieser doch vor Jahren gestorben.
Die Wandermenagerie
„Im sanften Glanz der Sternennacht,
die Nacht im Tanz im Wald verbracht.
Wo Blätter rauschen, Vögel singen.“
Dann stimmte der Magier mit ein.
„Wo unsere Herzen in Liebe erklingen.“
Sein Name war Iorie.
Kapitel 1
Peiya Shej wagte es nicht, ihn anzuschauen. Und tat es dennoch.
Verstand der Fänger nicht, dass der Dicke sie unbedingt haben wollte? Sah er nicht, wie er den Schnauzbart um seinen fetten Zeigefinger wickelte und wie dabei sein Mundwinkel zuckte, wenn er zu fest daran zog? Er stank nach Aufregung und Erwartung, die er kaum zurückhalten konnte. Der dicke Mann hätte ihm Peiya für ein Vielfaches abgekauft.
»Vierzig«, sagte der Fänger. »Für vierzig komme ich kaum nach Andalem zurück. Mein letztes Angebot.«
»Sie ist nicht einmal eine echte Elfe«, sagte der Dicke. Er sah sie mit geschlitzten Augen an. Seine Zungenspitze fuhr über die Oberlippe. Seine Hände krallten sich links und rechts am Kragen der karierten Weste fest.
»Nicht echt?«
Der Fänger schwitzte. Hatte er etwa selbst Zweifel an ihrer Abstammung? Sie roch sein Adrenalin, selbst unter der dicken Schicht Schweiß, die sich nach mehreren Tagesritten, der Hetzjagd durch den Wald und den Flaschen Met gebildet hatte, die er umgehend in sich hineinschüttete, nachdem er Peiya gefesselt hatte.
Wäre sie nicht gestolpert, wäre nicht ihr Fuß umgeknickt ... Wie konnte sie sich nur von einem tollpatschigen Menschen fangen lassen?
Ein Ruck durchfuhr sie und ihr Kopf schnellte nach vorne, folgte der Kette, die mit einem Lederband an ihrem Hals befestigt war. Peiya wand ihre Handgelenke in den Lederriemen. Sie schnitten in ihre Haut, so fest waren sie.
»Sie ist eine beschissene Elfe, das sieht doch jeder!«, schrie der Fänger. Sein Atem war faulig.
Der Dicke schnalzte mit der Zunge. »Ich meine. Ah, seht sie Euch an. Seht sie Euch genau an. Ihre Ohren zum Beispiel.« Die fleischige Hand des Dicken klatschte auf Peiyas Wange. Ungeschickt wischte er eine Haarsträhne beiseite. »Sind die elfisch oder nur die zu langen Ohren einer Entstellten?«
Der Fänger riss die Augen auf und schob zwei Falten unter das Kinn. »Ihre Ohren sind spitz und lang!«
»Und ihre Haut, zart und makellos. Ja, das gestehe ich Ihnen ein, guter Herr. Aber mag sie genauso gut ein großgewachsenes Mädchen sein, das nie zur Arbeit getrieben wurde.«
»Ein großgewachsenes Mädchen mit entstellten Ohren?« Der Fänger sah wütend von Peiya Shej zu seinem Geschäftspartner und wieder zu ihr. »Gott verdamm mich, sie ist eine Elfe des Fey-Waldes. Eine der Letzten ihrer Art. Sie ist locker das Fünffache wert!«
Und deshalb jagst du uns, bis niemand mehr übrig ist, dachte Peiya.
»Dreißig Gulden. Und ihr bekommt euren Proviant aufgefüllt, für die Reise zurück nach Andalem. Das ist mein letztes Angebot.«
»Ach verdamm mich«, knurrte der Fänger. »Soll sie dir bis ins Grab folgen!« Er spuckte auf den Boden. Dann streckte er die Hand aus.
Der Dicke lächelte, schlug ein.
Er steckte zwei Finger in den Mund. Ein lauter Pfiff durchstieß das Rauschen des Waldes. Sofort kam ein Junge mit einer kleinen Truhe herbeigeeilt. Münzen wechselten den Besitzer. Dann das Ende der Kette um Peiyas Hals.
»Gib unserem ehrwürdigen Fänger Wasser und Brot für die Reise«, befahl er dem Jungen. »Er hat es eilig vor Anbruch der Nacht den Wald in Richtung Andalem zu durchqueren. Bevor ihn die Wölfe erwischen.«
Oder Mutter Fey, dachte Peiya.
Der Dicke zerrte sie an ihrer Kette durch ein Spalier gaffender Männer und Frauen, an einem großen Zelt vorbei, das in bunten Farben spitz in den Himmel ragte. Dann auf Pferdewagen zu, die im Halbkreis aufgestellt waren. Jeder der Wagen trug drei Käfige, groß genug, dass sie darin stehen oder sitzen, nicht aber liegen konnte. Er fummelte einen Schlüssel in das Schloss eines leeren Käfigs, riss das Tor auf und stieß Peiya hinein.
In einigen der Käfige brach Jubel aus. Gierige Fratzen pressten sich gegen die Gitterstäbe. Bucklige Männer mit Muskeln, die aussahen, als wären sie von einem Bären geraubt worden. Eine Frau mit zwei Köpfen. Andere sahen sie mit Blicken an, so leer wie eine sternenlose Nacht.
Sie drückte sich mit geradem Rücken gegen die Stangen, um möglichst viel Abstand von dem Mann im Käfig nebenan zu bekommen. Er war klein, wie ein Kind, aber sein voller Bart, die dicke Nase und die Falten im Gesicht verrieten sein eigentliches Alter.
Quietschend fiel die Gittertür ins Schloss.
»Willkommen in deinem neuen Zuhause, Elfe«, sagte der Dicke. »Morgen wirst du tanzen.«
Kapitel 2
Ihre Füße schmerzten. Sie ließ es sich nicht anmerken. Nein, diese Genugtuung würden sie nicht von ihr bekommen. Weder der Dicke, welcher der Direktor des Zirkus war, noch die anderen, die in den Käfigen nebenan saßen.
Sie hatte getanzt, im Dreck der plattgetretenen Erde vor dem Zirkuszelt, zur Begrüßung der Gäste. Getanzt zur Belustigung der Männer und Frauen und ihren Kindern. Zur Belustigung der Menschen.
Sie hatte sich keine Mühe gegeben, war anfangs eher der Peitsche des Dicken ausgewichen, als dass sie sich der Musik hingegeben hätte. Der Kleinwüchsige aus der Zelle neben ihr hatte auf einer Flöte gespielt. Ein schnelles Lied, das sie nicht kannte und wenig Melodie hatte. Dann aber spielte er ein altes Lied, ein Lied der Alten, und Peiyas Füße kannten die Melodie. Der Dicke beobachtete sie mit den Augen eines Raubvogels, aber nach einiger Zeit vergaß sie ihn und die anderen Zuschauer. Vergaß sogar die Schmerzen in ihrem Fußgelenk.
Die Zirkusleute hielten ihn für einen Gnom. Weil sie es nicht besser wussten oder weil sie mehr aus seiner Nummer herausholen wollten. Nur einmal, vor vielen Jahren, hatte Peiya einen echten Gnom gesehen. Seine Haut war wie die Rinde eines alten Baumes gewesen. Kurz nach seinem Auftauchen war er wieder verschwunden. Es schien, als würde der Hass der Menschen die Gnome noch härter treffen als ihr eigenes Volk.
Er jedenfalls war keiner, hatte nur das Pech, ihnen in der Statur zu gleichen. Aber er spielte gut und Peiya tanzte und tanzte. So gut, dass sie noch einmal im Zelt tanzen musste, als die Vorstellung begonnen hatte.
»Feyblüte, bist du es? Bist du es wirklich?«
Peiya hob den Kopf. Die Stimme kam aus dem Käfig hinter dem kleinen Mann. Es war das dritte Gefängnis, das sich auf ihrem gemeinsamen Wagen befand. Gestern, als der Fänger sie hergeschleppt hatte, war er leer gewesen.
Feyblüte?
Ihr Herz raste. Dieses Wort! Vor ihrem inneren Auge erschien ein junger Mann, ein Elf des Fey-Waldes, wie sie es war. Seine Augen blau und hell und blond seine Haare. Die Haut gebräunt von den vielen Stunden, die sie gemeinsam auf einer Lichtung verbracht hatten. Seine Lippen. Und die zwei Fältchen neben den Mundwinkeln. Feyblüte – ein Name, den sie so oft gehört hatte, dann glaubte, ihn nie wieder zu hören, und schließlich vergessen hatte. Beinahe vergessen hatte.
Warum spielst du diesen grausamen Trick mit mir, Mutter Fey?, dachte Peiya.
Es war zu dunkel, um in die anderen Käfige zu sehen. Aber was sollte es auch zu sehen geben? Sie fantasierte. Es konnte nicht anders sein.
Sie setzte sich, zog die Schienbeine an sich heran und legte den Kopf auf den Knien ab. Sie weinte. Leise, so dass sie niemand hörte.
Kapitel 3
»Hier«, sagte der falsche Gnom und streckte eine Hand durch die Gitterstäbe.
Peiya schreckte hoch und drückte sich gegen die Käfigwand. Die Sonne reflektierte grell von den Metallstäben.
»Nun nimm schon. Ist von ihm.« Er deutete mit dem Kopf zum Käfig hinter sich. Er war wieder leer, wie am ersten Tag.
»Wer ist er?«, fragte Peiya.
»Sollte ich das nicht dich fragen?« Er lachte. »Ach, schau mich nicht so böse an!« Er machte eine weite Bewegung mit der freien Hand. »Er ist die Hauptattraktion in der Menagerie der Freaks. Ein Magier. Haucht Kerzen Feuer ein, lässt sie wieder ausgehen oder verschwinden. Solche Dinge. Am Schluss – das ist das Beste – lässt er einen Hut durch die Menge schweben, in den die Idioten dann ihr hart verdientes Geld werfen.« Wieder lachte er herzlich auf. »Er sorgt dafür, dass den Herren vom Zirkus die Münzen nicht ausgehen. Und der Wein.«
Für einen Moment verweilte sein Blick auf ihrem Knöchel. Schnell zog sie das Bein an sich heran und den Stoff ihres Kleides über die Schwelung. Dann aber stand sie auf und schnappte dem falschen Gnom das Bündel aus der Hand.
Es waren mehrere Blätter einer Eiche, die so ineinandergesteckt waren, dass sie ein kreisrundes Gefäß bildeten. Die so gefaltet waren, wie nur wenige in ihrer Heimat sie zu falten wussten. Oben, wo sich die Spitzen der Blätter trafen, waren sie vom Stil einer Lilie durchstoßen, der die Blätter miteinander verband, wie der Faden in einer Naht.
»Wer bist du?« flüsterte Peiya. Gleichzeitig zog sie den Blumenstil aus den feinen Löchern der Blätter, die sich eines nach dem anderen entfalteten. Ein stechender Geruch stieg ihr in die Nase, aber auch der süßliche von Kamille und erdiger Schafgarbe. Vorsichtig strich sie mit dem Finger durch den kleinen Klecks auf den Blättern. Die Paste war zäh und warm. Peiya setzte sich wieder und massierte die Salbe in die Haut über ihrem Knöchel ein.
Taubheit überkam ihren Fuß, ihr Bein. Süße, bekömmliche Taubheit. Sie lehnte sich gegen die Gitterstäbe und schloss die Augen.
Kapitel 4
Nur eine Person hatte sie jemals Feyblüte genannt. Das Gesicht aus ihrer Erinnerung gehörte Iorie, einem Elfen aus ihrem Wald. Sie hatten sich geliebt, waren untrennbar gewesen. Und dann wurden sie doch getrennt. Eher versehentlich hatte Iorie Magie gewirkt. Er war von Fey persönlich berührt worden, sagten die Ältesten, und als solchem war es seine Pflicht zu studieren. In Estaja, im Norden. Für zwei volle Jahre. Er ging hin und kam nie wieder. Iorie war seit langem tot.
An diesem Abend hatte sie zum ersten Mal einen Blick auf das Gesicht des Fremden werfen können. Nachdem Peiya getanzt, die entstellten Buckligen für Gelächter und die zweiköpfige Frau für ein Raunen in der Menge gesorgt hatte, wurde er in das Zelt geführt. Allein stand er in der Mitte der Bühne, denn sie und die anderen wurden bereits zurück in ihre Käfige getrieben.
Es konnte unmöglich Iorie sein. Seine Augen waren grau und kraftlos, seine Falten viele und quer über das vernarbte Gesicht verteilt. Wie Peiyas Haare hatten sie auch seine abrasiert, um die spitzen Elfenohren zur Schau zu stellen. Aber es war nicht Iorie!
Beinahe war sie froh gewesen. Iorie war vor fünfzig Jahren verschwunden – eine Zeit, die selbst für ihr Volk keine kurze war. Aber dann stach die verdammte Enttäuschung wie ein Dolch in ihr Herz.
»Wer bist du?«, zischte Peiya. Der Magier wurde von einem der Zirkusleute in den Käfig geschubst. Die Vorstellung musste zu Ende sein. »Und warum hast du mich so genannt?«
Er kniff die Augen zusammen. »Erkennst du mich nicht? Oder willst du es nicht?«
Peiya legte die Arme auf einer Querstange des Käfigs ab. Der Magier trat heran und tat es ihr gleich, so das die Hände der beiden von zwei Seiten in die Zelle des falschen Gnoms ragten. Schweigend betrachtete sie ihn, verglich das vernarbte Gesicht mit dem, das für immer in ihr Gedächtnis gebrannt war. Er hielt ihrem Blick stand. Etwas Ungebrochenes lag unter den Wunden, die dieser Mann erfahren hatte. Etwas Vertrautes.
»Was haben sie mit dir gemacht?«, fragte Peiya. »Du ... du solltest tot sein.«
»Nicht wenige würden dir zustimmen.«
»Jahre habe ich nichts von dir gehört. So viele Nächte habe ich dich beweint. Nach zwei Jahren hättest du wiederkommen sollen, nach fünf haben wir Mutter Fey deinen Geist anvertraut. Warum ... warum bist du nie zurückgekommen?«
»Ich wollte. Glaube mir, kein Tag verging, an dem ich mir etwas sehnlicher wünschte.«
Der falsche Gnom stöhnte auf und kauerte sich ins Eck seines Käfigs. Er war der Einzige, dem es möglich war, zu liegen.
»Der arme Balduin hört die Geschichte nicht zum ersten Mal«, sagte der Magier.
»Eher zum hundertsten Mal«, brummte dieser.
Peiya wischte sich eine Träne von der Wange, unterdrückte eine zweite. »Warum bist du dann nicht geflohen? Warum hast du Estaja nicht verlassen. Bestimmt hätten es die Ältesten verstanden, wenn du zu uns zurückgekommen wärst.«
»Sind sie noch am Leben?«, fragte er. Doch seine Augen verrieten, dass er selbst im Norden von den Pogromen gehört hatte.
Peiya schüttelte den Kopf. »Sie haben beinahe alle von uns getötet, vertrieben ...« Sie umfasste eine Stange ihres Käfigs. »Oder ihre Fänger nach uns geschickt.«
Er nickte. »Sitten und Landschaften ändern sich mit den Grenzen, aber der Hass auf alles Fremde bleibt. Bereits als ich Estaja erreichte, war die Stimmung schlecht. Es war die Zeit, als der König von Estaja mehr und mehr die Geduld mit der fremden Macht in seinem Reich verlor. Wir Magiewirkende waren ihm ein Dorn im Auge. Noch bevor ich an die Menagerie verkauft wurde, wurde ich Gefangener des estajischen Reiches.«
Er streckte beide Arme in ihre Richtung und drehte sie so, dass Peiya die Unterseiten sehen konnte. Tiefe Narben, die als schwarze Schwellungen hervortraten, erstreckten sich von den Handgelenken bis zu seinen Achseln.
Seine Nasenflügel zitterten unter dem stoßweisen Atem. Zum ersten Mal wirkte er nicht müde, nicht geschlagen. Er hatte Mühe, seine Wut zurückzuhalten.
»Um mich zu kontrollieren, schoben sie mir Runensteine unter die Haut. Sie schwächen mich, halten mich zurück. Wenn ich sie entferne, sterbe ich. Eines Tages gelang mir dennoch die Flucht aus Estaja, aber es dauerte nicht lange, bis Fänger mich fanden und weiterverkauften.
Als ich sah, wie sie dich an einer Kette hergeführt hatten, wie ein Tier. Ich wollte sie alle töten. Aber konnte es nicht. Nur der kleinste Teil meiner Magie kann meinen Körper verlassen. Meine Feyblüte, hätte es eine Möglichkeit gegeben, ich wäre sofort zu dir gekommen.«
»Wachen«, zischte Balduin.
Eine Peitsche knallte, dann erschien das fleischige Gesicht des Zirkusdirektors. »Nachtruhe! Morgen brechen wir die Zelte ab.« Seine Hände patschten gegen die Stangen von Peiyas Käfig. »Schlaf, schlaf, kleiner Kanarienvogel. Die Fahrt nach Norden wird lang und ungemütlich.«
Er verschwand im Halbdunkel des Abends. Dann endlich verstummte auch sein Lachen.
Peiya setzte sich und trug den letzten Rest der Salbe auf. In der Ferne zwitscherte eine Nachtigall. Grillen zirpten.
Balduin brummte einen tiefen Ton, brach ab und begann erneut etwas höher. Das Summen verwandelte sich in eine Melodie und noch ehe Peiya sie erkannte, formten ihre Lippen wie von selbst die Worte des alten Liedes.
»Im sanften Glanz der Sternennacht,
Die Nacht im Tanz im Wald verbracht.
Wo Blätter rauschen, Vögel singen.«
Dann stimmte der Magier mit ein.
»Wo unsere Herzen in Liebe erklingen.«
Sein Name war Iorie.
Kapitel 5
Als am nächsten Tag die Esel angebunden wurden, schrie Balduin auf und warf sich gegen die Gitterstäbe.
Der Zirkusdirektor schaute ihn verärgert an. »Ruhe, Gnom! Oder ich hole die Peitsche.«
»Ich kann nicht in dieser Zelle bleiben.«
Der Direktor lachte und wandt sich dem Stallmeister zu.
Balduin streckte seinen Arm durch das Gitter. Er war schwarz mit Ruß und Dreck. Peiya runzelte die Stirn.
»Bitte, guter Herr, sperrt mich ein, aber nicht zwischen den beiden Langohren.« Er zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Iorie. »Er hat versucht, mich zu töten. Meinen Arm hat er beinahe abgefackelt mit seiner elenden Elfenmagie.«
»Ist das wahr?«, fragte der Direktor. Als Iorie nichts sagte, schaute er zu ihr.
Peiya Shej wusste nicht warum, aber sie nickte.
Fluchend stiefelte der Zirkusdirektor zur Mitte des Wagens und riss das Gittertor auf. Er packte Balduin am Arm, zerrte ihn heraus, öffnete Peiyas Zelle und beförderte den falschen Gnom mit einem Tritt hinein. Dann zog er Peiya heraus und scheuchte sie in die Zelle in der Mitte des Wagens.
»Ihr haltet alle die Klappe, verstanden? Keine Magie, keine Musik und keine beschissenen Elfenlieder mehr.«
Peiya und Balduin nickten.
»Und du.« Er zeigte auf Iorie. »Der Gnom wird nicht gegrillt. Nicht bevor uns die Schweine ausgehen.«
Der Zirkusdirektor wechselte ein paar Worte mit dem Stallmeister, dann stiefelte er zum nächsten Wagen.
»Danke«, sagte Peiya.
Balduin wischte den Schmutz von seinem Arm. »Liebenden soll man nicht im Weg stehen.«
Die Fahrt auf dem Wagen war so unangenehm, wie Peiya es sich vorgestellt hatte. Die Straße war schlecht und jedes Schlagloch trieb ihr die rauen Holzlatten des Wagens gegen das Sitzfleisch. Wie konnte jemand diese Art der Fortbewegung bevorzugen, gefangen oder nicht, wenn ihre Füße sie genauso schnell über das Land hätten tragen können?
»Was bekümmert dich?«, fragte Peiya. Nach mehreren Tagen Fahrt, war Iorie stiller und stiller geworden.
»Hast du dich so an die Gefangenschaft gewöhnt, dass mein Kummer Rechtfertigung bedarf?«
Peiya verschränkte die Arme. »Behalte es für dich, wenn du magst. Aber nicht die Stangen sind es, die deinen Geist einschließen. Beleidige nicht meinen Willen zur Freiheit.«
Er seufzte. »Verzeih mir, Liebes. Es ist nur ... ich erkenne die Landschaft wieder.«
Sie sah sich um. Seit einiger Zeit führte der Weg erneut durch einen Wald. Doch davor waren sie durch Dörfer gekommen oder nahe genug an ihnen vorbeigefahren, um einen Blick auf sie zu werfen – und das Dorf hatte Blicke auf die Fremden geworfen. Hier waren die Dächer der Menschen nicht flach, wie im Süden, sondern spitz. Die Felder waren kahler und steiniger.
»Gestern haben wir die Grenze zu Estaja überquert«, sagte Iorie. Er griff nach ihrer Hand. »Ich hatte gehofft, es nie wieder zu sehen.«
Es war, als durchfloss sie Hitze und Kälte zugleich. Sie berührten sich nur selten. Auch jetzt, obwohl ihre Käfige aneinandergrenzten. Doch jedes Mal, wenn er sie berührte, spürte sie es – dieses Gefühl der Geborgenheit und gleichzeitig fühlte sie sich verloren.
Verloren in der Tiefe seiner Augen. In seiner Angst.
Peiya zog die Hand zurück, doch er ließ sie nicht los. Sie wandt sich in seinem Griff, aber er reagierte nicht. Die Hitze in ihrem Arm nahm zu, verschlang sie. Sie spürte seine Furcht vor den alten Peinigern. Das Leiden, das er erfahren hatte. Seinen Hass.
Die Welt verlor an Schärfe, Dunkelheit griff nach ihren Augen.
»Iorie«, sagte Peiya noch.
Dann explodierte einer der Bäume direkt hinter ihrem Wagen. Äste knallten gegen die Gitterstangen, Holzsplitter durchflogen die Zellen wie Geschosse. Die schwere Krone des Baumes krachte nach unten und verfing sich in den Wipfeln benachbarter Bäume. Der Stamm war nicht in der Mitte geteilt, er war pulverisiert worden.
Balduin, der im vordersten Käfig geschlafen hatte, schrie auf und rollte zusammen. Die Pferde der Zirkusleute wieherten, die Esel schrien.
»Ein Gewitter«, rief einer der Zirkusleute. »Weg von den Bäumen!«
Doch es war kein Unwetter.
Iorie ließ sie los und starrte auf seine Hände. Dann auf die von Peiya.
»Geht es dir gut?«, stammelte sie. Dabei ging es ihr selbst alles andere als gut. Was war gerade passiert? Was hatte Iorie getan?
Was hatte sie getan?
»Du bist ein Medium?«, fragte er. Doch es klang kaum wie eine Frage, eher wie eine Feststellung. »Der Fluch hindert mich daran, Magie zu entfesseln, aber sie fließt in dich, wie ... wie damals. Frei!«
»Du kannst durch mich Magie wirken?«, fragte Peiya. Die Angst und den Hass, den sie gespürt hatte, seinen und ihren vereint. Iorie hatte den Blitz hervorgerufen, aber sie hatte ihn entfesselt.
Der Zirkusdirektor eilte zu ihrem Wagen. Er zerrte am Geschirr der Esel, die stur an Ort und Stelle blieben, als wären sie festgewachsen. Immer wieder wanderte sein Blick nach oben, zum wolkenlosen Himmel. Er überprüfte die beiden Achsen des Wagens. Dann blieb er am letzten Käfig stehen und mit Augen, die so schmal waren wie Schießscharten, betrachtete er Iorie.
Kapitel 6
Zwei Tage später erreichten sie Estaja, die Hauptstadt des gleichnamigen Königreiches, und schlugen Lager vor seinen Toren auf. Sie hatten eine Aufführung nach der anderen. Nie hatte Peiya so viele Menschen gesehen und als sie glaubte, es könnten unmöglich mehr werden, beschloss der Zirkusdirektor, eine zweite Vorstellung bis spät in die Nacht abzuhalten. Jede war bis auf den letzten Platz besucht. Und dann verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer: Der König von Estaja hatte sein Kommen angekündigt.
»Ich könnte noch hundert Jahre leben. Du sicherlich zweihundert. Wir können es uns leisten zu warten. Ausharren, bis sie sterben und ihre Kinder werden vielleicht gnädiger sein«, sagte Iorie. Er drückte seine Handfläche gegen die Gitterstäbe, auf deren Rückseiten Peiyas Hand die Positionen seiner gespreizten Finger nachbildete.
»Und darauf hoffen, dass sie uns gehen lassen? Uns weiterverkaufen an jemanden, der uns in seinem Anwesen ausstellt? Oder dich zurück an den König von Estaja verkauft und uns voneinander trennt?«
Ihr Zeigefinger glitt über eine der Gitterstangen, glitt daran vorbei und berührte die Kuppe seines Fingers. Iorie bewegte ihn auf die andere Seite des Gitterstabs und senkte den Blick.
»Nächstes Mal könnte es uns umbringen.«
»Lieber sterbe ich. Lieber sterbe ich hundert Jahre zu früh, als eines zu spät. Leben in Gefangenschaft ist keines, das zu leben sich lohnt. Und keinen Tag möchte ich mehr von dir getrennt sein. Wir werden fliehen oder gemeinsam sterben.«
Der König hatte sich angekündigt und verlangte nach einer Aufführung, die alle Artisten, Abnormalitäten und Freaks gleichzeitig auf der Bühne sah. Eine Aufführung nur für sich und seinen Hof. War nicht das die Chance, auf die sie gewartet hatten?
»Sobald sie mich auf die Bühne bringen«, sagte Iorie nach langem Schweigen, »tanze zu mir. Und küsse mich.«
Niemand klatschte, als Peiya die Bühne betrat. Die Tribüne war teils abgebaut und durch einen großen Thron und kleinere Stühle ersetzt worden. Etwa fünfzig Männer und Frauen in prunkvollen Kleidern saßen dort und plauderten mit vorgehaltenen Händen. Manche lachten, schauten sie herausfordernd an. Andere beachteten sie nicht. Der Mann auf dem Thron trug eine Krone mit bunten Diamanten. Um ihn herum hatten sich Soldaten in Harnischen versammelt.
Sie hatte Angst. Mehr als sonst. Ihr Fuß schmerzte wieder, seit der Zirkusdirektor die Anzahl der Aufführungen verdoppelt hatte. Doch sie hatte niemandem davon erzählt. Auch nicht Iorie. Besonders nicht Iorie. Er hatte bereits genug Zweifel an ihrem Plan.
Waren sie begründet? Würde sie heute Nacht zwei gesunde Beine zur Flucht brauchen? Oder in seinen Armen sterben?
Peiya Shej vollführte eine Pirouette. Ein Zucken huschte über ihren Mund, als ihr Fuß die Drehung abfing. Doch er hielt. Hinter ihr, am Rande des Podiums, standen der Zirkusdirektor, der Bucklige und die Frau mit den zwei Köpfen. Sie sahen besorgt aus. Scheinbar erwartete der König von Estaja mehr als das gewöhnliche Volk. Mehr als ein paar Außenseiter, die durch die Manege gepeitscht wurden.
Wollen wir ihm mehr geben, dachte Peiya.
Balduin stimmte ein Lied der Alten an, das er sich normalerweise für den Schluss aufhob. Es handelte von Liebe und Sterben und wie das Sterben die Liebe niemals besiegen konnte. Peiya schloss die Augen. Sie tanzte und summte und das Summen wurde zu Worten in der Sprache der Alten, die sie selbst kaum verstand. Die Worte kamen und gingen und ein Fuß folgte dem anderen.
War sie nicht frei? In diesen Momenten, in denen alle zusahen, oder es nicht taten, und sie es nicht einmal mitbekam. Es sie nicht kümmerte.
Das Lied endete auf einer traurig ausklingenden Note. Das Zirkuszelt trat zurück in den Fokus. Die Stühle, der Thron, die Menschen darauf. Niemand sprach mehr. Alle schauten auf sie.
Der König klatschte einmal in die Hand, ein zweites und drittes Mal und sofort stimmte der gesamte Hof mit ein. Hinter ihr fiel die Anspannung ab, als wären sie knapp einem großen Übel entgangen. Den Krallen eines Bären, den Fängen eines Wolfes. Dem Sturm, der abdreht, bevor er die Ernte vernichtet.
Der Zirkusdirektor eilte auf die Bühne, verbeugte sich tief und zeigte grinsend auf Peiya. »Die Elfe aus dem Fey-Wald tief im Süden. Die Letzte ihrer Art. Heute und immer zu euren Diensten, Majestät.«
Der König winkte ab und der Dicke beeilte sich, Iorie auf die Bühne zu treiben.
Ihr Herz machte einen Sprung. Würde der König von Estaja seinen früheren Gefangenen wiedererkennen und ...?
Ehe sie den Gedanken beenden konnte, ertönte der schrille Ruf aus Balduins Flöte.
Ein Raunen ging durch die Sitze des Hofes. Iorie hatte zehn Kerzen zugleich erscheinen lassen und ließ sie in gleichen Abständen vor der Tribüne schweben. Der König stützte sich mit dem Ellbogen auf die Lehne seines Thrones. Er wirkte gleichgültig, unbeeindruckt. Unwissend.
Die Dochte fingen Feuer, kleine Flämmchen, die im Takt der hohen Töne von Balduins Flöte aufpoppten.
Die Adligen applaudierten. Damen drängten sich dicht an die edlen Wämser ihrer Männer. Eine Wache in der ersten Reihe machte einen Schritt zurück. Und langsam richtete sich der König im Thron auf. Seine Hand rutschte unter seinem Kinn hervor und klappte wie leblos zur Seite. Seine Augen wurden weit, sein Mund war zur Hälfte geöffnet.
Jetzt oder nie, dachte Peiya.
Sie knickte in den Knien ein, schwang die Arme nach rechts, dann nach links und folgte dem Impuls mit einem Sprung. Sie wirbelte um die eigene Achse, ein, zwei, dreimal, verlangsamte, indem sie die Arme ausbreitete. Sie beugte sich weit nach hinten, bis ihre Handflächen den Boden berührten. Sie stieß sich mit dem Fuß ab und ließ ihn im Bogen durch die Luft gleiten. Der zweite folgte und geräuschlos setzte sie einen nach dem anderen ab. Sie richtete sich auf, warf ihre Arme nach oben und ließ sich steif wie ein Brett nach hinten fallen.
Iorie fing sie wenige Zentimeter über dem Boden auf, umschlang ihren Brustkorb mit der einen und ihre Hüfte mit der anderen Hand. Für einen Moment schlossen sich ihre Blicke ineinander. Bist du dir sicher?, schienen seine Augen zu fragen. Und du?, antworteten ihre. Welche Wahl haben wir?, sprachen sie beide.
Lähmend, wie das Gift einer Mamba floss Iories Wut in Peiya Shej über. Sein Hass drang durch ihre Haut, in ihr Fleisch und verbreitete sich durch ihre Adern. Brennende Hitze umschloss Lunge und Herz, bis sie kaum noch Luft bekam. Sie roch den stechenden Gestank ihrer Angst, den Schweiß zwischen ihren Körpern. Seine Wut auf das, was ihm angetan wurde, verband sich mit ihrer, auf das, was kommen würde, wenn sie nicht flohen. Die Hitze schwoll an, wanderte nach oben, brannte sich in ihre zusammengekniffenen Augen. Gleich würde sich die angestaute Energie entladen. Sie würde seine Magie freisetzen und alles und jeden zerstören. Keinen Tag zu lang, keinen Tag getrennt, fasste Peiya einen letzten Gedanken.
Iorie drückte seine Lippen auf ihre. Zuerst ganz sanft, dann mit Entschlossenheit. Beinahe wäre sie zurückgewichen. Er ließ sie nicht und sie war froh darum. Peiya schlang einen Arm um seinen Hals und drückte sich an ihn. Die Schreie der Zuschauer traten in ihr Bewusstsein. War es Jubel? Empörung?
Sie öffnete die Augen. Hinter Iorie war der Zirkusdirektor, raufte sich die Haare und marschierte hektisch die Bühne auf und ab. Sah er sie nicht? Warum sah sie durch Iorie hindurch, obwohl sie seine Lippen spürte? Ihre Hand, die seinen Hals berührte und die feine Haut hinter seinen Ohren liebkoste, warum sah sie diese nicht?
»Hab keine Angst«, flüsterte Iorie. Er hob sie an, wich dem dicken Zirkusdirektor aus und trug sie die Treppe der Tribüne hinunter. Er schlängelte sich an den Wachen vorbei, die mit verwirrten Gesichtern durch sie hindurch starrten. Iorie schlüpfte durch den Verschlag des Zeltes.
Dann verschwanden sie in der kalten Nacht vor Estajas Toren.
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