Villeroy ist unverwundbar. Keine Arme, kein Biest ist dem besten Warlord des Reiches gewachsen.Doch Wut und Arroganz führen zum Tod seines Vaters und Villeroys Allmacht beginnt zu schrumpfen. Hatte sie etwas mit ihm zu tun? Mit der Krone, die der Alte selbst im Kampf über Villeroys Kopf hielt?Als Villeroy der schrecklichen Bärenmutter gegenübertritt, lernt er zum ersten Mal, was Verwundbarkeit bedeutet. Und welch naher Begleiter der Tod ist.
Die Götter lächeln nicht
für die Schwachen
"Wie viel du zu verlieren hast,
wird dir erst bewusst,
wenn sie immer noch etwas finden,
das sie dir nehmen können!"
Kapitel 1
loreiche Tage
Sie ist flach wie ein Junge, ihre Hüfte so reizvoll, wie stehengelassener Haferschleim. Ihr Gesicht ist kaum besser. Mager und kantig. Ihre blonde Haare enden einen Fingerbreit unterhalb des spitzen Kinns. Vielleicht hatte sie tatsächlich die letzten zwanzig Jahre in ihrem Wald in Isolation verbracht und schlichtweg verschlafen, wie sich die Mode verändert hatte.
„Gefalle ich dir nicht?“, fragt sie. „Ich kann etwas ändern. Du musst es nur sagen.“
Als würde sie meine Gedanken lesen. Verfluchtes Miststück! Vielleicht tat sie das sogar.
Trotz allem fühlt sich meine Hose unangenehm eng an. Und ja, die Versuchung ist groß! Ich hatte noch nie eine Hexe bestiegen. Wie alt magst du sein? Einhundert? Zweihundert Jahre, im Körper einer Zwanzigjährigen?
Der Cognac brennt feurig in meinem Rachen. Ich setze das Glas ab, bringe es erneut an meine Lippen und leere den Rest. Es war der letzte Schluck aus den edlen Flaschen gewesen, die wir in Belle-Roche erbeutet hatten. Von jetzt an ist nur noch das selbstgebrannte Gesöff der Vasallendörfer übrig. Ihr Vieh und ihre Vorräte sind immer das Erste, das meinen Männern in die Hände fällt und zugleich das, das am längsten übrig bleibt. Zäh und ledrig schmeckt ihr Fleisch und zäh und ledrig sind ihre Töchter.
„Zeig dich, wie es dir beliebt, Hexe!“ Ich rutsche in meinem Sessel nach hinten, verlagere das Gewicht auf die Seite und schiebe die Faust unter mein Kinn. Mit einer Gefangenen ins Bett zu steigen, hatte noch nie bei deren Befragung geholfen.
Einen Moment lang betrachtet sie die Wölbung zwischen meinen Beinen, die nun weniger deutlich zu sehen ist. Dann starrt sie mich mit großen Kuhaugen an, lächelt humorlos. Eine Maske, die sofort einer anderen weicht.
„Zu schade.“ Ihre Händen streichen die Haare zurück. Fingernägel, lang wie Krallen, vergraben sich in ihrem Schopf. Dann fallen ihre Haare, rot, wie die Sonne am Morgen und lang, wie die erwachenden Schatten, bis weit über ihre Hüfte. „Wir hätten so viel Spaß haben können.“
Mein Zunge fährt über die trockenen Lippen.
„Sag was du für dein Wissen haben willst.“
Noch einmal wandert ihr Blick. Nur kurz verweilen ihre Augen auf den Truhen mit Gold, auf den Sklavinen und den Dienern und den polierten Rüstungen der Wachen. Dann deutet sie in das dunkle Eck zu meiner Linken.
Obwohl ich jeden Winkel in meinem Militärzelt kenne, ein Zelt, in dem ich bereits hunderte Male die Nächte vor der nächsten Schlacht verbracht hatte und das so groß ist, wie der Saal eines kleineren Königshauses, drehe ich den Kopf.
Mein Vater sitzt mit gebeugtem Rücken auf seinem Hocker. Seine unnatürlich langen Arme hängen schlaff nach unten, so, dass die Handrücken beinahe am Boden aufliegen. Auf seinem Schoß liegt das Samtkissen mit der Krone, golden und mit fünf Diamenten versehen. Jeder groß, wie die Hand eines Kindes. Kopf und Oberkörper des Alten wippen im Takt seiner schnellen Atmung. Seine fahlen Augen beobachten mich und die Hexe. Angewidert wende ich den Blick ab.
„Du willst die Krone?“ Dumpf grollt mein Lachen. „Du verschwendest meine Zeit, Hexe. Sie ist mehr wert und bezeugt mehr von meinem Ruhm, als es der Kopf der Bärin je könnte!“
„Und dennoch willst du die Bärenmutter unbedingt finden und erschlagen.“
„Sag mir, wo sie ist!“
Sie lächelt und wirft keck den Kopf in den Nacken. „Weist du denn nicht, dass mich der Schmuck der Menschen nicht interessiert?“
Schmuck! An Ort und Stelle sollte ich sie für die Beleidigung erschlagen. Als hätte ich die Krone nicht den kalten Fingern des Ogerkönigs entrissen.
„Ich habe kein Interesse an deinem Gold“, fährt sie fort. Sie wickelt eine Haarsträhne um ihren Finger, als wäre es eine Spindel. „Gib mir den Alten und du sollst erfahren, was zu wissen du begehrst.“
„Meinen Vater?“ Ich lache, richte mich im Sessel auf und breite meine massigen Arme aus. „Das Nutzloseste, das sich in meinem Besitz befindet! Welches Interesse könntest du an ihm haben?“
Am Rande meines Sichtfeldes blitzt etwas auf. Bevor sie antworten kann, lege ich den Zeigefinger an meine Lippen.
Unsicher, ob er eintreten darf, hält General Flad mit einer Hand den Verschlag des Zeltes offen, mit der anderen salutiert er. Grelles Licht dringt durch die Öffnung. Wärme weicht aus dem beheizten Militärzelt und steigt in die kühle Morgenluft auf.
„Hatte ich mich nicht deutlich ausgedrückt?“, schreie ich Flad an. „Während ich eine Gefangene befrage, hat mich niemand zu stören!“ Plötzlich bin ich schlecht gelaunt. Der Gedanke, dass sich die Hexe gerade für den Alten interessieren könnte, meinen verkrüppelten Vater, ist absurd! Der Grund, warum ich ihn noch immer in meinem Lager dulde, entfällt mir immer öfters. Aber natürlich, Mutter hatte es so gewünscht, hatte es angewiesen, als sie blutend ihre letzten Atemzüge nahm, zertrampelt unter ihrem eigenen Schlachtpferd. Inzwischen ist der Alte so etwas wie das Maskottchen meiner Armee geworden. Aber was zur Hölle möchte sie mit ihm anfangen?
„Villeroy, mein Herr“, beginnt General Flad, fällt auf ein Knie und schlägt sich die rechte Faust vor das Herz. „Bezwinger von Tevedor, Schlächter der Orks im Norden, wie im Süden, Witwenmacher unter den Zardonen. Selbst die Heldentaten eurer Mutter, der Blutreiterin aus Zakarev, würden verblassen neben euren ...“
„Ja, ja, schon gut.“ Ich winke ungeduldig mit der Hand, um ihm anzudeuten, er solle endlich zum Punkt kommen. Wenn er alle meine Eroberungen aufzählt, sitzen wir morgen noch hier. „Was willst du?“
„Mein Herr, entschuldigt mein Eindringen. Die Männer werden ... unruhig. Wir alle hoffen, dass ihr der Liste bald einen weiteren glorreichen Sieg hinzufügen werdet. Der Feind ist in Sichtweite. Im Halbkreis umzingeln sie das Lager. Sie exekutieren unsere Späher und verspotten unser Heer.“
„Welche Späher?“, frage ich.
„Ich habe sie gestern entsandt, wie ihr befohlen habt, um Bjornar, den Schlächter zu finden. Jetzt hat er uns gefunden.“
Ich bringe ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Ich möchte wissen, ob die Exekutierten mein Banner tragen oder ob sie ohne das Wappen unterwegs waren.“
Flad nickt. „Ja Herr, sie tragen den blutigen Reiter auf ihren Mänteln.“
Ich spüre die Hitze in meinen Kopf steigen. Flad und die anderen Männer schweigen, wenden den Blick ab. Vater sagt eh nie etwas. Nur die Hexe kichert leise.
„Niemand wirft mein Banner in den Dreck!“ Ich stehe auf und winke den Alten zu mir. Weitere Diener eilen hinzu und legen mir die Rüstung an. Das lederne Wams, die goldene Platte, geformt nach meinen Brust- und Bauchmuskeln, die gezackten Schulterplatten, der Gürtel mit dem Totenschädel als Schnalle – sie alle sind nur Symbolik. Nie kam mir die Waffe eines Feindes auch nur nahe. Aber ist es nicht köstlich zu sehen, wie sie den Tod der Angst sterben, bevor sie der eigentliche ereilt?
Schäumend, wie ein gereizter Stier, durchquere ich das Zelt. „Du willst meine Ehre besudeln?“ Ich reiße meine Axt von der Halterung – ein zwei Meter langer Stab aus elfischer Eiche mit einer langgezogenen Klinge aus Obsidian, die in den Höllenfeuern des verfluchten Volkes geschmiedet wurde. „Wir werden sehen, wie gut der Hohn deinem abgeschlagenen Kopf steht!“
Flad zieht den Stoff am Eingang des Zeltes zur Seite und ich schreite mit gekniffenen Augen in die Morgensonne.
Meine Armee jubelt.
An der Spitze des Hügels sehe ich Männer mit Speeren. Das gefletschte Wolfsmaul auf schwarzem Stoff, das Banner von Bjornar, dem Schlächter, weht rings um mein Lager. Lächerlich klein wirken seine Soldaten, als wären sie Käfer, die Zahnstocher halten. Und als solche werde ich sie zerquetschen.
Ich halte nicht an, ich zögere nicht. Der kalte Wind weht meine langen Haare nach hinten.
„Halte sie hoch über meinem Haupt“, belle ich meinen Vater an.
Der Alte gehorcht. Er ist groß und seine Arme sind unnatürlich lang. Sein Buckel macht diesen Vorteil beinahe wieder zunichte. Dennoch vermag er die goldene Krone gut dreißig Zentimeter über meinem Kopf zu halten. Der einzige Zweck des alten Krüppels.
„Bjornar! Du versteckst dich hinter Weibern und Memmen. Komm heraus und ich schneide dir deinen hässlichen Kopf vom Hals.“
Mit Schritten, die die Erde wie gefällt Bäume erschüttern, erklimme ich den Hügel zum Lager des Schlächters. Seine Hörner und Trompeten ertönen. Darunter mischen sich die Trommeln und die Schreie meiner Männer. Bjornars Leute aber jubeln nicht. Kalter Schweis liegt in der Luft, wie in einem Hurenhaus. Die Vordersten seiner Krieger drängen sich nach hinten, wo ihr Fliehen nur durch die nächste Reihe verhindert wird. Ihr Blut wird das Erste sein, das fließt, sie wissen es!
„Habt ihr nicht geahnt, dass ich im Lager meiner Armee bin?“, spotte ich und meine Stimme trägt weit, bis tief in ihre Herzen.
Der erste Pfeil wird abgeschossen. Dann der zweite und ein dritter. Kurzzeitig verdunkelt sich der Himmel, als Bjornars Schützen das Feuer auf mich richten. Die Geschosse verfehlen mich weit. Ungehindert erzwinge ich den Wall und der Alte eilt mir ungeschickt hinterher. Seine dürren Arme halten die Krone oberhalb meines Kopfes.
„Gib acht, dass du mich nicht berührst“, sage ich. Unweigerlich geht mir das Bild seiner entstellten Hand durch den Kopf und das seines sechsten Fingers, der leblos zwischen Daumen und Zeigefinger nach unten hängt. Einmal hatte er mich damit berührt, als seine Arme lahm wurden. Das Ding war kalt und viel zu weich.
„Du ekelst mich an!“ Ich schüttle mich, schreie und springe nach vorne, auf Bjornars zitternde Männer zu. Ich schlage die Klinge meiner Axt in das weiche Fleisch eines Speerträgers. Der obere Teil des Mannes fällt mir entgegen, sein Unterkörper sackt in sich zusammen, seine Augen sind weit, dann weiß, dann für immer geschlossen.
Ich werfe die Axt nach vorne. Das pure Gewicht der schrecklichen Waffe erschlägt zwei von Bjornars Männern. Ich packe den langen Schaft am Ende und schwinge meinen Todbringer in weitem Radius. Dutzend Männer schreien auf, dann fallen sie als zwei Dutzend Hälften zu Boden. Vater hechelt, die goldene Krone schwebt genau dreißig Zentimeter über meinem Haupt.
„Nicht müde werden“, rufe ich dem Alten zu. Das Blut meiner Feinde tropft von meinem Gesicht. Hiefür wurde ich geboren. Ich lache vor Glück.
Meine Axt zerteilt einen Fahnenträger, dann ramme ich das Ende des Schaftes in die Kehle eines anderen Soldaten. Er spuckt mir sein Blut auf die Rüstung und ich lasse ihn mit einem Tritt vor die Brust nach hinten segeln.
Vor uns teilt sich die Menge und schon rennt eine Gruppe stahltragender Männer auf mich zu. Ehrsüchtige Trottel, die es in jedem Heer gibt.
„Idioten“, schreie ich. „Eure Weiber werden noch heulen, während sie die Kinder meiner Männer gebären!“
Als Antwort fliegt ein Speer aus der Menge. Die Spitze funkelt in der Morgensonne. Das Geschoss kommt genau auf mich zu und kurz bevor es mich trifft, hebe ich reflexartig die Hand, als wollte ich mein Gesicht schützen. Der Speer lenkt ab und bleibt mehrere Meter neben mir im Boden stecken. Ich lache, denn ich habe noch immer nicht verstanden, wie das funktioniert. Ich bin unbesiegbar!
Ich verdopple die Länge meiner Schritte, ich rase und Vater schlurft mit seinen zu langen Beinen hinterher. Dann schlage ich die flache Seite der Klinge gegen das Gesicht des vordersten Helden. Schild und Helm knicken wie Grashalme beiseite und sein Kopf verwandelt sich in Matsch. Ich wüte weiter, bringe den Tod zu meinen Feinden, köpfe und verstümmele sie. Und einen Moment später steht nur noch ein Mann, umgeben von Leichen, Gedärmen und Körperteilen, die nicht mehr zuzuordnen sind.
„Bjornar!“, brülle ich. „Wirst du nicht der Schlächter genannt?“ Ich breite meine Arme aus. Die schwere Axt als Verlängerung meiner Rechten, wie kein Sterblicher sie halten könnte. „Der Geschlachtete würde dir besser stehen.“
Meine Männer jubeln, einige von Bjornars Männern ergreifen die Flucht. Nur er bleibt ruhig, schweigt, sieht mich an.
Bjornar ist größer als ich. Er trägt einen Mantel, der einst das Fell eines weißen Wolfes war. Ein fürchterliches Biest, mit dem er tagelang und mit bloßen Händen gerungen haben soll. Das aufgerissene Maul des Tieres sitzt auf seinem Haupt und zeigt die gelben Zähne. Bjornars Gesicht ist dunkel und bärtig und von einer langen Narbe zweigeteilt.
„Villeroy, Herrscher, der die Krone nicht trägt. Mag es Zufall sein, dich in diesem Winkel der Hölle anzutreffen?“ Bjornar lacht und es irritiert mich. Wie kann er noch lachen? Weiß er nicht, dass er sterben wird? „Führst du nur den Alten aus oder bist auch du auf der Jagd nach der Bärenmutter?“
„Die Bärin wird durch meine Hand sterben“, sage ich.
„Und doch bist du mit deinem Heer tatenlos an ihrer Höhle vorbeigezogen.“
In Gedanken lasse ich die Reise der letzten Tage Revue passieren. Der Dunkelsee und die Gebirgshänge, die sich aus seinen Untiefen bis weit in den Himmel erheben. Auch da waren meine Späher nicht zurückgekommen. Und kurz darauf hatte sich die Hexe gezeigt. „Natürlich. Sie wollte mich davon abhalten, die Höhle zu finden“, murmele ich. Du stiehlst mir meine Entdeckung und versuchst sie mir dann zurück zu verkaufen?
Bjornar lächelt. „Wir sollten sie gemeinsam jagen. Das Biest ist groß, wie zehn Ochsen und stark, wie zehn Elefanten.“
„Durch meine Hand alleine. Und ihr Fell wird den Boden meines Zeltes zieren, so wie das Hündchen deinen hässlichen Rücken verdeckt.“
Bjornar brummt zustimmend oder ablehnend oder einfach nur, weil er endlich sein Schicksal akzeptiert hat. Er hebt sein Schild mit der einen, den Speer mit der anderen Hand an.
Vaters Atmen ist zu einem schnellen Hecheln geworden.
„Blamiere mich nicht, alter Mann“, zische ich. Dann renne ich los und Vater eilt mit langen Schritten hinterher und die Krone schwebt dreißig Zentimeter über meinem Haupt.
Dem ersten Hieb meiner Axt weicht Bjornar leichtfüßig zur Seite aus. Er versucht, mich zu umrunden, doch ich ramme den schweren Holzgriff in seine Richtung. Er lenkt den Schlag mit seinem Schild ab. Das Holz splittert und er wirft das nutzlose Ding zur Seite. Er zieht das Langschwert, das ihm quer über den Rücken gebunden war, und wirft sich und die Spitze der Klinge nach vorne. Ich pariere mit einer kleinen Bewegung meiner Axt und lache Bjornar ins Gesicht. Doch dann stößt er mit seinem Speer rechts an mir vorbei.
Im letzten Moment verlagere ich das Gewicht und fange den Speer mit meinem Brustpanzer ab. Der Speer zerbricht. Er wollte nicht mich, sondern Vater treffen. Den nutzlosen Alten? Das Gesicht der Hexe schiebt sich wie eine faulige Erinnerung vor mein inneres Auge. Und Fragen drängen sich mir auf, deren Antworten ich schon bald aus ihr herausprügeln werde.
Bjornar umgreift das Schwert mit beiden Händen, dreht sich linksherum um die eigene Achse und schwingt in langem Bogen nach meinem Vater.
Ich schlage die Klinge mit dem Stiel meiner Axt beiseite. Bjornar atmet schwer und bevor er erneut zuschlagen kann, wirble ich die Schneide meiner Waffe in einer Aufwärtsbewegung nach oben und trenne ihm den linken Arm ab. Zusammen mit seinem Schwert fällt das leblose Ding zu Boden.
Ich packe den Schlächter am Hals, hebe ihn hoch und schmeiße ihn mit dem Rücken auf den Boden. Bjornar röchelt und schnappt nach Luft.
„Warum wolltest du meinen Vater töten?“, frage ich. „Antworte und ich werde zehn deiner liebsten Männer das Leben schenken.“
Bevor Bjornar antworten kann, stößt etwas gegen meinen Kopf, dann fällt es zu Boden. Im Versuch, die Krone aufzufangen, rutscht die fleischige Hand meines Vaters über meinen Nacken, über meinen Arm. Ich spüre den kalten Finger auf meiner Haut.
Ekel durchzuckt mich, meine Augen werden zu Schlitzen, bis sie nur noch Bjornars blutverschmiertes Gesicht erfassen. Er starrt mich überrascht an, grinst, dann lacht er aus vollem Hals.
Langsam drehe ich mich um. Vater hat die Krone zurück in seine deformierten Hände gebracht. Der leblose Finger wird zwischen Krone und Handfläche nach vorne gebogen, wie eine fette Fleischmade. Vater atmet schwer, seine Arme zittern, als er sie nach oben und über mein Haupt streckt.
Meine Faust trifft ihn in der Magengrube. Vater geht zu Boden und die Krone rollt über das Schlachtfeld.
„Wie kannst du es wagen?“, schreie ich den Alten an. Ich trete nach ihm, doch seine dürren Beine sind so lang, dass ich nur seinen Oberschenkel treffe. Vater rollt zur Seite und hebt sich den Bauch. Er grunzt und stöhnt und dann ramme ich ihm den Schaft meiner Axt in die Seite. Schwach, denn ich halte mich im letzten Moment zurück, aber stark genug für einen Sterblichen und Vater sackt benommen in sich zusammen.
Niemand spricht.
Niemand spricht aus, was alle wissen.
Meine Ohren piepsen und mein Sichtfeld wird noch kleiner.
Blut läuft aus dem Mund meines Vaters.
Etwas berührt meine Schulter. Langsam schaue ich auf.
„Herr“, sagt General Flad, den ich nur an der Stimme erkenne.
Sterne tanzen vor meinen Augen.
„Bjornar, der Schlächter. Er flieht.“
Mein Blick folgt seinem ausgestreckten Arm. An dessen Ende ist ein ausgestreckter Finger, der auf den davonrennenden Bjornar zeigt. Dann ist er zwischen seinen Männern verschwunden.
„Lass ihn gehen“, sage ich. Das Sprechen fällt mir schwer. Ich ramme die Axt mit dem Stiel in den Boden. „Bringt die Zelte. Meine Sachen“, befehle ich. Ich breite die Arme aus und wie auf Kommando erscheinen meine Diener, die mir die Rüstung abnehmen „Wir reiten zurück. Morgen werden wir die Höhle der Bärenmutter erreichen und die Bestie wird sterben.“
Zittert meine Stimme? Wegen Vater? Wegen der Bärin?
„Tötet alle, die nicht geflohen sind. Und sorgt dafür, dass keines meiner Banner zurückbleibt.“
Waffen und Rüstungen klirren, als einige meiner Männer an mir vorbeieilen und Bjornars Männern nachsetzen. Ich nehme sie kaum wahr.
„Was ist mit ... sollen wir ihn begraben?“, fragt Flad.
Ich starre ihn an, dann schwenkt mein Blick zu Vater. Getrocknetes Blut klebt an seiner Wange. Fliegen umschwirren sein Gesicht. Er bewegt sich nicht.
„Wir lassen ihn liegen. Und töte die Hexe.“
Kapitel 2
ärenmutter
Ich fühle mich nackt. Die Krone ist zu groß für meinen Kopf und da der Alte nicht mehr lebt, habe ich sie mit einem Band an meinem Gürtel befestigt. Die Axt liegt quer über meinen Schultern. Zum ersten Mal brauche ich beide Hände, um sie zu halten.
Die Bärenmutter wird nicht nur so genannt, weil sie die älteste und größte Bärin ist, die je auf dieser Welt gelebt hat. Sie ist Mutter von mindestens dreißig Bären.
Die Kinder der Bärin, jedes davon groß wie eine Kutsche, wüten unter meinen Männern. Wir kämpfen uns durch einen Tunnel, der vom Eingang der Höhle wegführt. Für jedes erlegte Tier verliere ich zehn kampferprobte Krieger. Der Tunnel weitet sich und eine Höhle, so groß wie ein Thronsaal, tut sich vor uns auf. Für einen Moment bin ich von der Schönheit der Stalaktiten geblendet, die wie Säulen von der Decke hängen. Und vom Anblick des Baches, der sich durch moosbewachsene Felsen schlängelt und schließlich in einem Wasserfall abgeht.
Dann sehe ich die Bärin. Schrecklich thront sie über ihrer verbliebenen Brut. Drei, viermal so groß wie die anderen Biester.
General Flad führt eine Gruppe an ehrsüchtigen Männern an, auch in meinem Heer gibt es sie zu genüge. Mit geschlossenen Schilden stürmen sie auf die Bärenmutter zu, schreien, um sich Mut zu machen. Und ich folge zögerlich.
Die Axt drückt unbequem gegen meinen Nacken. Ich werfe einen Blick nach hinten, suche das fahle Gesicht des Alten, doch sehe nur die ängstlichen Gesichter meiner Männer. Ich umklammere meine Axt mit beiden Händen und stürme los – so schnell ich mich unter dem Gewicht der mächtigen Waffe bewegen kann.
Mit nur einem Hieb wischt die Bärin Flad und zehn meiner besten Männer beiseite. Sie kreischen, als sich die Kinder der Bärin an ihnen laben. Ich schließe die Lücke und wirble um die eigene Achse. Träge schwingt die Axt hinterher. Die Klinge trifft die Bärin am Bein. Sie brüllt und reißt die mächtige Pranke, unter der sie soeben einen Krieger zerquetscht hat, zurück.
Die Gedärme des Kriegers werden durch die Luft geschleudert. Dann sausen die Krallen, so groß wie Schwerter auf mich zu.
Ich hebe den Arm vor mein Gesicht. Ich bin unbesiegbar ... Die Pranke trifft mich auf der gesamten Länge meines Körpers. Der Harnisch verhindert, dass ich zweigeteilt werde, doch die Wucht des Schlages schleudert mich bis zum Eingang der Höhle zurück.
Ich reiße die Augen auf, doch die Schwärze bleibt. Langsam kehrt die Sicht in einem meiner beiden Augen zurück. Ich bin inmitten meiner verbliebenen Soldaten gelandet. Ich gebe Befehle, versuche aufzustehen, doch stürze erneut. Einige wenige Männer schließen die Reihe und schreiten mit gesenkten Speeren auf die Bestien zu. „Für Ehr und Villeroy“, schreien sie und kurz darauf sterben sie. Die meisten ergreifen die Flucht. Ich kämpfe mich zurück auf die Beine und schließe mich ihnen an.
Kapitel 3
hrlos
Wer einmal vor dem Feind geflüchtet ist, kann nicht mehr an die Spitze des Heeres zurückkehren. Nicht ich habe diese Regel gemacht. Sie braucht weder Erklärung noch die Autorität eines Anführers.
Seit Tagen streife ich alleine durch Wälder und Wiesen. Ich habe Hühner aus den Ställen der Bauern gestohlen und bin gerannt, als sie mir mit ihren Mistgabeln nachjagten. Ich esse Beeren und Pilze und übergebe mich, wenn es die falschen waren.
Mein Bein schmerzt, wie ich es nicht für möglich gehalten habe. Gelbe Flüssigkeit dringt aus Wunden, die nicht heilen wollen.
„Wie kann das sein?“ Ich starre auf meine geschwollenen Hände, die früher selbst noch nach tagelangem Kämpfen zart und makellos waren. Ich werfe mich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm und rutsche langsam zu Boden.
„Ich war unbesiegbar“, flüstere ich. Ich schüttle den Kopf und Tränen quellen aus meinem Auge – dem einen, mit dem ich noch sehe. Im anderen wird die Welt für immer schwarz bleiben. Was ist passiert? Warum?
Ein Murmeln reißt mich aus meinem Delirium. Reflexartig greife ich nach meiner Axt, aber ich habe sie in der Höhle der Bärenmutter verloren. Auch könnte ich sie nicht mehr halten.
„Es ist Villeroy, ganz sicher“, sagt eine tiefe Stimme. Ich kann nicht ausmachen, von wo sie kommt.
„Niemals“, antwortet eine andere. „Villeroy ist viel größer und ... der Typ da ist kurz vorm Krepieren!“
„Ja, Villeroy blutet nicht einmal“, sagt eine Frau. „Lasst uns sehen, ob er etwas bei sich hat und verschwinden.“
Ich ziehe mein Bein zu mir heran und kämpfe mich nach oben. Galle füllt meinen Mund. Ich huste, werfe den Kopf von links nach rechts, denn ich sehe die drei noch immer nicht.
„Zeigt euch“, rufe ich und zwinge mich zu einer festen Stimme. „Wo seid ihr? Kommt heraus.“
„Ich sagte doch, er ist es!“
Gegenüber des Weges, aus dem Schatten einer großen Eiche treten drei Männer mit Dolchen in den Händen, gefolgt von einer Frau mit einem Bogen um die Schulter.
Noch sind sie vorsichtig, halten sich bereit zur Flucht, wie es meine Feinde immer taten. Doch wieder wird mir schwarz vor den Augen. Ich halte mich am Baum fest, bis mein Kreislauf zurückkommt. Ich huste und spucke Blut vor meine Füße und die drei Männer und die Frau kommen grinsend auf mich zu.
„Sieh an, sieh an“, sagt der Vorderste. Er hat eine besonders entstellten Visage. „Villeroy, der unbesiegbare Kriegsfürst, der die Krone nicht trägt.“ Er lacht und sein Blick verweilt für einen Moment auf dem goldenen Reif, der an meinem Gürtel hängt. „Du trägst sie noch immer nicht. Aber mit der Unbesiegbarkeit scheint es ein Ende zu haben.“
„Nimm sie und verschwinde“, sage ich, löse das Lederband an meinem Gürtel und schleudere die Krone zu ihm.
Er hebt sie auf und betrachtet das Schmuckstück. „Wenn er wirklich Villeroy ist, ... seine Krone wäre ein kleines Vermögen wert.“
„Wenn er wirklich Villeroy wäre“, erwidert neben ihm ein Kleinwüchsiger mit langem Bart, „würde er sie uns nicht einfach geben. Vielmehr wären wir bereits tot.“
Der Mann mit der hässlichen Visage betrachtet mich, mein zermatschtes Auge, meine zerrissene Kleidung und die verbliebenen Rüstungsteile an Armen und Beinen. „Ich glaube, jemand hat den mächtigen Villeroy besiegt, aber den Job nicht zu Ende gebracht.“
Der dritte Mann, ein Typ in Bauernkleidung und nichtssagendem Gesicht, beginnt mich zu umrunden. „Warum nur die Krone nehmen? Warum nicht auch den Ruhm einsacken? Der mächtigste Mann des Reiches – niemand muss wissen, dass er bereits verletzt war.“
Die Frau löst den Bogen von ihrer Schulter. „Niemand wird glauben, dass es die Krone des Unsterblichen ist, wenn er kurz darauf vor den Toren von Grand-Bastion auftaucht.“
Ich gehe rückwärts, stolpere und fange mich an einem Stamm ab. Wie heiße Nadelstiche schießt der Schmerz durch mein offenes Bein und die Masse, die einst mein Auge war. Ich renne los. Wie ich mich auf den Beinen halte, weiß ich nicht. Haben sich so meine Feinde gefühlt, bevor ich ihnen meine Axt in den Rücken rammte?
Etwas trifft mich in der linken Schulter, bleibt stecken und wirft mich nach vorne. Die verdammte Schützin! Ich grunze mit zusammengeknirschten Zähnen, bin zu erschöpft, um zu schreien. Mit letzter Kraft schlage ich einen Haken nach rechts, wütende Stimmen folgen mir.
Doch dann verstummen sie. Ich greife nach einem Ast und klammere mich fest. Meine Lunge brennt. Jedes Röcheln trägt den Geschmack nach Eisen in meinen Mund – nach Blut, wie ich es bisher nur von meinen Feinden kannte, wenn sich ihre durchtrennten Adern über meinem Gesicht entleerten.
Kraftlos löst sich meine Hand. Ich sinke auf den Boden und drehe langsam den Kopf.
Die vier Halsabschneider gehen rückwärts. Angst steht in ihre Augen geschrieben und für einen Moment spüre ich die Mordlust von früher und mein Verlangen, sie zu töten, bringt mich beinahe zurück auf die Beine.
Beinahe.
Der Hässliche streckt die Arme aus, stellt sich wie ein Kruzifix vor seine Truppe und drängt sie zurück.
Ich verstehe nicht. Ihren Blicken folgend, schaue ich in die Richtung, in die ich eben noch vor ihnen geflohen bin. Zwischen Bäumen versteckt finde ich eine Höhle. Meine Augen brauchen einen Moment, bis sie sich an die Dunkelheit darin gewöhnen. Dann sehe ich einen Mann in einer schwarzen Kutte. Er hat keine Haare, aber Tattoos, die seinen Kopf und sein Gesicht bedecken. So viele, dass die einzelnen Zeichen kaum noch zu erkennen sind. Er stützt sich auf einen Stab, an dessen Ende der Schädel eines Raben steckt. Finsternis geht von dem Mann aus, mehr noch als von der Höhle. Finsternis und Tod. Und ich verstehe noch immer nicht.
Kapitel 4
ich
„Villeroy“, sagt der Mann mit dem Rabenstab. Seine Stimme ist ein tiefes Brummen. „Komm rein, du siehst aus wie Scheiße.“ Er macht einen Schritt in die Höhle und verschmilzt mit der Dunkelheit.
Ich starre ihm einen Moment lang hinterher. Nie zuvor habe ich mich gewundert, warum alle meinen Namen kennen. Wer ist der Typ? Auf allen vieren kämpfe ich mich bis zum Eingang der Höhle, ziehe mich an einer der Wände nach oben und folge tiefer, immer tiefer in die Dunkelheit.
Nur das Klacken, das sein Stab auf dem steinernen Untergrund macht, weißt mir den Weg. Dann plötzlich brennt wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt eine Fackel auf. Ich zucke zurück und verziehe die Augen zu kleinen Schlitzen.
Die Höhle ist nicht größer, als mein Kriegszelt es war, als ich noch ein Zelt hatte und noch Kriege führte. In der Mitte steht ein Tisch mit zwei Hockern. Auf dem Tisch liegen Werkzeuge, Sägen und eine Zange. Der hintere Teil der Wände ist mit roten Symbolen bemalt.
„Wer bist du?“, frage ich.
Der Mann lacht und geht zu einem Schrank mit Türen, in die kleine, rechteckige Scheiben eingelassen sind. Darin sind Gläser und Ampullen, Flaschen und Fläschchen. Er lässt den Korken von einer Flasche ploppen und leert eine rote Flüssigkeit in ein Glas.
„Wein?“, fragt er.
Ich ziehe mich an der Wand nach vorne, auf ihn zu. „Ich bin ... verletzt“, sage ich.
„Das sehe ich“, antwortet er und lacht wieder. Sein Lachen ist trocken und klackernd, als würde jemand Steine gegeneinander schlagen.
„Kannst du mir helfen?“
Noch immer hält er mir das Glas entgegen. Dann zuckt er mit den Schultern und nimmt selbst einen Schluck. Das Glas ist halb leer, als er es auf dem Tisch abstellt. „Setz dich“, sagt er.
Ich löse die Hand von der Wand und schlurfe zu einem der Hocker. Sofort wird mir schwindelig. Ich greife ins Leere, im Versuch, die rotierenden Wände festzuhalten. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen.
Der Mann lacht sein trockenes Lachen.
Blut schießt mir in den Kopf. Ich schnaufe vor Anstrengung, Schmerzen und vor Wut. Verdammt, ich bin Villeroy! Schlächter unter ... „den Zardonen“, höre ich mich sagen. „Bezwinger von Tevedor.“
Meine Worte sind kaum mehr als ein Windhauch, die im Sturm seines rauen Lachens untergehen.
Ich erreiche den Hocker und lasse mich dankbar darauf fallen. Mein Rücken sackt nach vorne. Schmerz schießt durch meine durchbohrte Schulter. Erst jetzt bemerke ich, wie unendlich taub sie sich anfühlt.
„Hilf mir endlich“, fordere ich ihn auf. Mit aufeinandergepressten Zähnen füge ich hinzu: „Bitte.“
„Wo ist deine Krone?“, fragt der Mann.
„Meine ... ich habe sie verloren. Was hat meine Krone ... scheiße, wenn du mir nicht hilfst, werde ich ...“ Werde ich sterben? Ich kann nicht sterben. Kann ich sterben?
„Zu schade. Um dich, meine ich. Zu schade, denn ja, genau das wirst du. Du wirst leidvoll verrecken.“
„Dann tu etwas, verdammt!“
Er lacht und schüttelt den Kopf, als hätte ich etwas Irrsinniges vorgeschlagen. „Meine Hilfe ist aber nicht ohne Gegenleistung zu haben“, sagt der schließlich. Er greift nach seinem Glas und leert es in einem Zug.
Vor wenigen Tagen noch hätte ich jemanden wie ihn allein wegen seines beschissenen Lachens erschlagen.
„Was willst du dann?“, frage ich stattdessen. Ich kann kaum noch den Blick aufrechthalten. Für mehrere Sekunden versinkt der Tätowierte hinter einem schwarzen Schleier, der durch wirre Lichtblitze durchzuckt wird. „Sag, was du für deine Hilfe willst.“
„Nun, die Krone hätte ich genommen.“
„Sie war der Grund für meine Stärke, für meine Unverwundbarkeit, ist es nicht so? Solange sie über meinem Kopf war, konnte mir niemand etwas anhaben. Und ich habe sie verloren. Habe alles verloren.“ Ich weiß nicht, ob er versteht, wovon ich rede, aber er kennt meinen Namen und scheinbar wissen alle über mich Bescheid. Ich schlucke schwer und trocken und als Beweis, dass meine Theorie stimmt, schmecke ich das dicke Blut in meinem Rachen.
„Villeroy, Villeroy. Ach, mein lieber Villeroy. Was würde deine Mutter nur sagen, wenn sie dich so sähe?“ Er tippt mit seinem Zeigefinger gegen das Kinn, wo sich das Tattoo eines Flügels mit dem eines Pentagramms überschneidet.
„Du kanntest meine Mutter?“, frage ich ungläubig. Ich kannte sie selbst kaum.
„Angavia kam zu mir, als sie noch nicht als die Blutreiterin bekannt war. Als sie schwach war. Und machtlos.“
„Meine Mutter war nie schwach“, sage ich.
Er lacht, ohne dass sich seine Mundwinkel bewegen. Nichts in seinem gottverdammten Gesicht bewegt sich.
„So, wie du nie schwach sein würdest? Sie war jung und schwach, aber wusste schon damals, dass die Götter nur für die Mächtigen lächeln. Wir hatten einen Deal, aber sie hat ihn gebrochen.“
„Willst du mir deshalb nicht helfen?“, frage ich.
Er schweigt und ich versuche, die Antwort in seinem Gesicht abzulesen. Nichts. Dann verschwindet es wieder hinter dem wachsenden Schleier meiner Ohnmacht. Darüber zucken die Blitze im Dauerfeuer.
„Ich werde dir helfen. Vielleicht. Was ist dir dein Leben wert? Was ist dir deine Macht wert?“
„Alles“, antworte ich, ohne zu zögern.
„Gut. Gib mir deine Hand.“
Ich lege meine Rechte auf den Tisch. Für einen Moment kehrt die Sicht in meinem funktionierenden Auge zurück. Der Mann hält eine Zange in der Hand.
Ich zögere.
Er lacht.
Ich beiße mir auf die Lippen.
Die Zange drückt gegen den Ansatz meines Zeigefingers. Ich versuche, den Kopf abzuwenden, aber bin zu schwach es zu tun. Warum versagt mein verdammtes Auge jetzt nicht?
„Das hätte ich beinahe vergessen“, sagt der Tätowierte und der Druck gegen meinen Finger lässt nach. „Dumm, wer den gleichen Fehler zweimal begeht.“ Lachend legt er seinen Stab mit dem Rabenkopf auf den Tisch und zupft dem Schädel eine der letzten verbliebenen Federn aus. Während seine ausdruckslosen Augen mich anstarren, fährt er mit der kleinen Feder über seine Zunge. Dann biegt er den Schaft der Feder ein paar Mal hin und her und wickelt ihn um meinen Zeigefinger.
„Damit der Diener diesmal auch wirklich seinem Meister dient. Damit er mir dient.“ Ich starre verständnislos auf die Feder um meinen Finger. Dann die Zange. Ich stöhne auf, als der Schmerz für einen Moment die Taubheit durchbricht. Aber wirklich spüren tue ich es kaum noch.
Es muss Zeit vergangen sein. Als ich aufsehe, steht ein zweiter Mann neben dem Tätowierten. Er ist alt und gebeugt. Seine graue Haut wird nicht von Kleidung verdeckt.
Der Tätowierte hält Nadel und Faden in der einen und meinen abgeschnittenen Finger mit der Feder in der anderen Hand.
Er näht meinen Finger an der Handfläche des Alten fest, denke ich. Doch mein Delirium stiehlt der Realisierung den Funken. Ich starre auf meine blutende Hand.
„Mutter hatte auch ein Finger gefehlt“, sage ich abwesend. Ich kann mich kaum noch an sie erinnern. Sie ist vor vielen Jahren gestorben und hat mich mit meinem schwachsinnigen Vater zurückgelassen. Wieder starre ich auf die Hand des Alten. Der Finger ist beinahe angenäht und baumelt leblos zwischen Daumen und Zeigefinger, dort wo das Fleisch sitzt. Unweigerlich muss ich an die eklige Berührung meines Vaters denken. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Nackten, der gebeugt vor mir steht und gehorsam seine Hand hinhält, während der Haarlose ihm meinen Zeigefinger annäht, lässt mich auflachen.
„Und deine Arroganz hat dich blind für den Zusammenhang gemacht“, sagt der Tätowierte, ohne aufzuschauen. „Du hast dich nie gefragt, woher der zusätzliche Finger kam?“
Ich verstehe noch immer nicht. Oder verstehe, aber kappiere nicht, was für einen Sinn all das machen soll und weigere, mich es zu akzeptieren.
„Fertig. Gehe zurück in deine Zelle“, sagt der Tätowierte und der Fahle eilt mit langen Schritten zu einem Durchgang im hinteren Teil der Höhle. Entweder war er mir zuvor entgangen oder ein Teil der Felswand ist verschwunden.
„Und du, Villeroy“, sagt der Tätowierte und zeigt mit der Spitze seines Stabs auf mich, so dass der Schnabel des Raben wie eine Klinge nach oben ragt. „Verschwinde. Ich habe keine Verwendung mehr für dich.“
„Du hast gesagt, du wirst mir helfen. Meine Wunde. Meine Macht! Was ist damit?“
„Nichts ist damit. Wir sind quitt. Die Schuld deiner lächerlichen Familie ist beglichen.“
„Was soll das heißen? Du hast es versprochen!“
„Und du glaubst, das kümmert mich? Ich habe deine Mutter gerettet, als sie nichts mehr hatte, außer der roten Flechte, die ihre Lunge zerfraß und sie zu einer Aussätzigen machte. Der abgemachte Preis war ihr Finger, den sie willig gab, aber sobald er seine Macht entfaltete, angebracht an der Hand ihres Mannes, da hat sie ihn mir wieder gestohlen.“
Die Worte sprudeln aus ihm heraus, Spucke sickert über seine schwarz verzierte Wange. Und Hass leuchtet aus seinen Augen, wie ich sie nie gesehen, nein, vermutlich nicht einmal im blutigsten Gemetzel selbst verspürt hatte.
„Angavia, die Blutreiterin ist tot“, sagt er nach einem lange Moment des Schweigens. „Aber ihre Linie und die Magie des alten Volkes lebt in dir weiter, ihrem einzigen Nachkommen. Und sie wird mit dir sterben.“
„Du kannst nicht ...“, beginne ich. „Du darfst mich nicht sterben lassen.“
Denn ich bin Villeroy, der Unbesiegbare, will ich hinzufügen.
Aber was für eine Bedeutung hat das noch?
„Oder was? Du Narr. Dein Vater war es, der dich unbesiegbar machte, nicht deine lächerliche Krone und schon gar nicht dein Name. Der perfekte Diener. Ein wandelnder Schrein unendlicher Macht! Der Finger deiner Mutter hat ihm die Magie der alten Welt verliehen und ihn gleichzeitig gefügig gemacht. So, wie dein Finger mir unendliche Macht verleihen wird.“
Schweigend starrt er mich an und ich warte darauf, dass sein Lachen die Stille durchbricht.
Doch er lacht nicht mehr.
„Und du hast ihn erschlagen, als wäre er ein lahmender Gaul“, sagt er und zeigt mit dem Rabenstab auf mich. „Deine Stärke, deine Heldentaten. Sie haben nie dir gehört. Sie waren geliehen. Gestohlen! Von mir! Ich gebe dir fünf Minuten. Wenn ich dich das nächste Mal sehe, reiße ich dir jeden verbliebenen Finger einzeln aus.“
Kapitel 5
reund und Feind
Was macht man mit einem Pfeil im Rücken, einem fehlenden Auge und einer verstümmelten Hand? Wie viel du zu verlieren hattest, wird dir erst bewusst, wenn sie immer noch etwas finden, das sie dir nehmen können.
Ich schleppe meinen malträtierten Körper durch den Wald, weg von dem Tätowierten, weg von den Wegelagerern und Halsabschneider. Es ist der Goldeichwald, wie ich jetzt, da die Sonne hoch und klar am Himmel steht, an den leuchtenden Wipfeln erkenne. Ich weiß, dass in diesem Wald fähige Heiler leben. Druiden, die die Energie der Pflanzen und Pilze zu nutzen wissen. Aber ich weiß nicht, wo sie sind. Und selbst wenn ich sie fände, würden sie mich vermutlich töten, weil meine Männer einst ihre Töchter verschleppt hatten oder weil ihre Großmütter meine Zehen für einen Eintopf bräuchten.
Was ist nur los mit dieser Welt? Was ist los mit meiner Welt?
Früher einmal war der Name Villeroy gleichbedeutend mit Glück gewesen. Mögen die Götter auf dich achtgeben, wie auf Villeroy, habe ich einst zwei Männer zueinander sagen hören. Damals hatte ich noch nicht verstanden, was Glück oder die Götter damit zu tun haben sollten. Ich nahm, was ich wollte und tötete, wer mich daran zu hindern versuchte. Deshalb strahlte die Sonne, deshalb war ich unbesiegbar. Das hatte ich so lange geglaubt.
Und jetzt? Jeder beschissene Taschendieb des Reiches versucht einen Teil von mir als Souvenir abzuschneiden. Villeroy, der Unbesiegbare. Villeroy der Besiegte.
Jetzt weiß ich es besser.
Das Plätschern des Wassers leitet mich. Es ist wie eine süßliche Melodie, die durch den Schleier meiner Benommenheit schwingt. Die Musik wird immer lauter, während ich mich dem Gewässer nähere, aber sie wird nicht rau und reißend, wie das Finale eines Konzertes. Das Wasser bleibt ruhig und freundlich, wie eine begleitende Violine.
Ich versuche erst gar nicht, meine zerrissene Kleidung oder meine Stiefel auszuziehen, ich sacke in mich zusammen und falle mit dem Gesicht voraus in das Becken. Das Wasser ist türkis, dann ein sattes Blau. Nur wenn ich geradeaus nach unten schaue, verliert sich mein Blick in dunkler Tiefe.
Wärme umgibt mich. Das Wasser schmeckt süßlich und nach Rosen. Wenn ich untergehe und ertrinke, dann sterbe ich einen glücklichen Tod.
Ich tauche auf und schnappe nach Luft, werfe meinen Kopf nach hinten und die Haare aus dem Gesicht. Dann blinzele ich die restlichen Wassertropfen aus meinem Auge. Doch sogleich entstehen neue und ich versuche sie noch einmal wegzublinzeln. Dann erst realisiere ich, dass ich weine.
Vielleicht ist es die Last, die von mir fällt. Das Akzeptieren, dass ich sterben kann und sterben darf. Zum ersten Mal in meinem Leben beobachte ich die Welt um mich herum. Die Bäume mit Vögeln und felligen Kleintieren in ihren Ästen. Den kleinen Wasserfall am Rande des Beckens. Die Sonnenstrahlen, die mich wärmen und das Wasser in glitzernde Kristalle verwandelt.
Ich sitze am Ufer. Meine Hand tastet zum Schaft des Pfeiles, der in meiner Schulter steckt. Er ist abgebrochen, ich weiß nicht wann. Bevor mir erneut Tränen kommen, richte ich den Blick zurück auf den Wasserfall.
Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, was sich sehe. Aus dem Wasserfall starren mich zwei leuchtende Augen an. Die Augen sind von Fell umgeben und darunter sehe ich gefletschte Zähne. Doch direkt über dem Wolfsgesicht, nach einer kleinen Lücke, die durch das fallende Nass des Wasserfalls gefüllt ist, befinden sich ein weiteres Augenpaar, eine plattgedrückte Nase und ein von Bart umwucherter Mund.
Bjornar der Schlächter, der sein Wolfswappen als Tattoo auf der Brust trägt, sieht selbst aus, als hätte er die letzten Tage als das Spielzeug eines Drachenrudels herhalten müssen. Frische Schrammen ziehen sich über sein Gesicht, vermutlich hatte er früher einmal zwei Ohren besessen. Sein linker Arm ist kurz unterhalb des Schultergelenks abgetrennt.
Instinktiv taste ich nach meiner Waffe. Natürlich ist sie nicht da und meine Finger kratzen durch das feuchte Gras, bis sie einen Stein zu greifen bekommen.
„Bjornar!“, schreie ich. Die Schönheit dieses Platzes ist so schnell aus meinem Bewusstsein verschwunden, wie sie kam. „Ich hätte dich gleich erschlagen sollen, noch bevor du die Chance hattest, dich hinter deinen Männern zu verstecken! All das ist deine Schuld. Alles!“
„Meine Schuld?“, ruft Bjornar zurück. „Warum soll das meine Schuld sein?“
Ich schaue an mir herab, als wäre das Erklärung genug.
„Ich habe dir angeboten, dich mit mir zu verbünden und die Bärenmutter gemeinsam zu jagen.“
Er lispelt. Wahrscheinlich hat er ein gutes Stück seiner Zunge verloren. Gut, denke ich. Den Rest werde ich ihm gleich ausreißen.
„Du bist nicht so stark, wie du dachtest“, stellt Bjornar fest.
Ich werfe den Stein, aber verfehle. „Meine Stärke war nie das Problem. Nicht bevor du kamst und mir meinen Vater genommen hast!“
Bjornar schüttelt den Kopf, lässt sich in Wasser gleiten – herunter vom Absatz, auf dem der Wasserfall auftrifft – und beginnt mit einem Arm und zwei wild strampelnden Beinen zu schwimmen. „Mit dir ist nicht zu reden, Villeroy. Du bist noch irrer, als dein Ruf es vermuten ließ. Dein Vater ist tot, weil du ihn erschlagen hast. Und die Götter dulden keine Elternschänder. Deshalb, nur deshalb hat dir das Schicksal endlich den Einlauf verpasst, den du schon immer verdient hast.“
„Du verfluchtes Arschloch!“, rufe ich und werfe mich ins Wasser. Ich schlage mit den Händen ins Wasser, doch weil meine linke Schulter so steif ist, wie ein Knabe, der zum ersten Mal die Dorfhure besteigt, schwimme ich rechts an Bjornar vorbei.
„Hah, feige Sau! Versuchst selbst jetzt noch, mich von hinten zu überraschen!“ Bjornar schleudert eine Handvoll Wasser nach mir und geht unter. Er taucht spuckend und hustend auf und schreit etwas Unverständliches.
Endlich habe ich die Schläge meines gesunden Armes an den Rhythmus des verletzten angepasst. Ich werfe meine Faust nach vorne und treffe Bjornar an der Schläfe.
Im Versuch zu parieren taucht er wieder unter.
Ich wische das Wasser aus meinem Auge. Wo ist er hin?
Etwas umschlingt meine Hüfte. Ich strample, doch er hat mich bereits fest mit seinen Beinen umschlungen. Er reißt mich mit nach unten. Zu spät schnappe ich nach Luft, als dort schon keine mehr ist. Ich huste und würge, bis meine Lungen leer sind.
Ich brauche Luft, schnell! Ich versuche mich abzustoßen, aber Bjornar lässt nicht locker. Hält er sich an etwas fest, an Pflanzen, einem Stein am Grund des Teiches?
Der Druck in meiner Lunge ist kaum noch auszuhalten. Wieder schiebt sich der schwarze Schleier mit den Blitzen vor mein Auge.
Dann endlich lässt Bjornar los. Ich kämpfe mich an die Oberfläche und sauge grunzend Luft ein. Luft, kühle, klare Luft.
Neben mir taucht Bjornar auf, ringt nach Luft. Ich schlage mit der Linken nach ihm, verfehle und werfe die Rechte nach vorne. Er greift nach meinem Arm, doch ich wehre ihn mit einer Hand ab und drücke ihn mit der anderen nach unten. Er ändert die Taktik, taucht unter meinen Schlägen hindurch, schießt nach oben und haut mir in die Fresse.
Mein Bewustsein schwindet. Kurz bevor ich untergehe, sehe ich, wie Bjornar von mir weg und zum Ufer schwimmt und ihn flüchten zu sehen, bringt meine Lebensgeister zurück. Ich strample und schlage die Handflächen ins Wasser. Außer Atem erreiche ich ihn, als er sich gerade ans Land zieht. Ich versetze ihm einen Schlag in die Leber. Er fällt zurück und hält sich am Pfeilstumpf in meiner Schulter fest. Ich schreie auf, falle zurück, schlage nach ihm, klammere mich an einem Grasbüschel am Ufer fest.
Alles wird schwarz. Ich spüre seine Schläge in meinem Gesicht, in meinem Bauch und ich spüre, wie meine Fäuste seine Nase brechen, seinen gebrochenen Arm malträtieren.
Irgendwie haben wir es beide ans Ufer geschafft. Wir liegen nebeneinander und schlagen uns. Immer langsamer, immer schwächer.
Minutenlang bewegen wir uns beide nicht mehr. Dann versetzt er mir einen leichten Hieb und ich erwidere mit einem Tritt.
Dann vergehen wieder Minuten, in denen wir beide keuchen, unter den Schmerzen grunzen, schluchzen oder einfach nur weinen.
„Ich war unbesiegbar“, sage ich, ohne zu wissen warum.
„Ich weiß“, sagt Bjornar. Sein Lispeln ist noch schlimmer geworden. Doch es gibt mir keine Genugtuung mehr.
„Du warst der Erste, der mich durchschaut hat“, sage ich weiter. „Du wusstest, dass ich nur wegen meines Vaters unbesiegbar war. Ich hatte es nicht einmal vermutet, aber du wusstest es. Als du ihn anstatt mich angegriffen hast, da wusstest du es.“
„Ich habe es geahnt“, sagt Bjornar. „Und trotzdem war ich dir nicht ebenbürtig.“
Ich lache. „Jetzt bist du es.“
„Hm.“
„Wie geht es deinem Arm?“, frage ich.
„Er fehlt“, sagt er, aber dann lacht auch er. „Deiner Schulter? Deinem einen Auge?“
„Es tut weniger weh, als ... noch vor kurzem“, sage ich und teste meine Beweglichkeit mit einer kleinen Bewegung.
„Das ist das Wasser. Es heilt einen.“
„Warum?“
„Was weiß ich? Vielleicht ist es Druidenpisse.“
„Ha.“
„Dein Auge wird nie wieder sehen“, sagt Bjornar gleichgültig, „und ich werde nie wieder einen Zweihänder führen. Aber bis vor einem Tag, bevor ich den Tümpel gefunden habe, hatte ich Fieber und Gelbsucht und musste jede Stunde kotzen, wie ein Bulimie-Ork. Alles vorbei.“
„Ha“, sage ich noch einmal. Dann schweigen wir für lange Zeit.
„Soll ich dir den Pfeil aus dem Rücken ziehen?“, fragt Bjornar schließlich.
„Soll ich dir deine Schuhe binden?“, frage ich.
Wir lachen beide.
„Das wäre hilfreich“, sagt Bjornar. „Sobald ich neue Schuhe finde.“
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